Daniel Welsch
„Hic sunt leones“, schrieben die ersten Kartographen der Neuzeit in die weißen, noch unerforschten Flecken der Landkarten. Einen solchen wenig kartographierten Fleck im Gebiet der Medienwissenschaften erforscht auch Prof. Dr. Hartmut Winkler mit seinem Werk „Prozessieren“ – das deutet bereits der Untertitel „Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion“ an. Denn Friedrich Kittlers berühmte Behauptung, die Medien insgesamt ließen sich auf die drei Funktionen Übertragen, Speichern und Prozessieren bringen, wurde zwar zur Basis einer technikzentrierten Medientheorie, viele Autor*innen scheuten sich aber – genau wie Kittler selbst – vor einer Definition der dritten Medienfunktion, verwendeten den Begriff stattdessen, als sei er selbsterklärend. Winkler nennt zu Beginn seiner Monographie einige Beispiele für diesen sorglosen Umgang mit dem Begriff und nutzt diesen für eine allgemeinere Kritik am relativ jungen Fach der Medienwissenschaften, dem er insgesamt fehlende Sorgfalt bei begrifflichen Klärungsprozessen vorwirft. Wissenschaftliche Begriffe seien nur dann brauchbar, „wenn ihre Implikationen ausreichend diskutiert, ihr begriffliches Umfeld geklärt und ihre inneren Spannungen offengelegt werden.“ (S. 32) Nach einer ersten Unterteilung in eine weiten und einen engen Begriff des Prozessierens und einer Arbeitsdefinition des engeren Begriffs als „Eingreifende Veränderung“ folgt ein assoziativer Durchgang durch verwandte Konzepte wie Transformation, die Theorie der Transkriptivität, Begriffe wie Form und Information, aber auch eher philosophische Fragen nach Wandel, Verwandlung und dem Neuen. Die Stärke dieses ersten Teils liegt darin, dass er durch die vielfältigen Beispiele zeigt, dass es sich bei Prozessieren trotz des technischen und mechanistischen Beiklangs keineswegs um einen computerspezifischen Term handelt, sondern er in unterschiedlichen Medienkontexten verwendet werden kann, „immer dann, wenn Input und Output sich unterscheiden, sich die Medieninhalte verändern.“ (S. 111). Der Nachteil dieses assoziativen Einstiegs in das Thema liegt darin, dass Winkler dem Leser einen genauen Stand der Forschung und der Literatur zum Thema schuldig bleibt. Außerdem fällt es dem Leser zuweilen schwer, Winkler auf seiner sprunghaften Reise zu folgen, wenn beispielsweise Ovids in Hexametern verfasstes mythologisches Werk „Metamorphosen“, der juristische Begriff des Prozessierens sowie die Action-Spielfiguren und Filmreihe „Transformers“ als Zeugen oder Beispiele in kurzen Abständen aufeinanderfolgen. Der zweite Teil des Buches fragt nach dem Verhältnis der drei Medienfunktionen, wobei auch diese zunächst trivial anmutende Frage Probleme bei der Benennung der drei Medienfunktionen aufdeckt. Da Prozessieren als „Eingreifende Veränderung“ die Produktidentität auflöst, diese für die Übertragung im Raum oder Überwindung der Zeit gewährleistet sein muss, arbeitet Winkler mit der Metapher der Verflüssigung und Verfestigung der Medienprodukte. Diese offenbart, dass das Speichern in zwei unterschiedliche Medienfunktionen zerfällt – nämlich das „Verfestigen oder Stillstellen“ beispielsweise beim Brennen eine DVD sowie das „Überwinden der Zeit“, wenn diese DVD über Jahre aufbewahrt wird (vgl. S. 132-133). Bei genauerer Betrachtung bedeutet dies jedoch, dass Stillstellung als Teilfunktion nicht dem Speichern zugerechnet werden kann, sondern als letzter Schritt das Prozessieren abschließt. Und allgemeiner bedeutet dies, dass „die Medienfunktionen offensichtlich Teilfunktionen enthalten, die logistisch Teil einer anderen Medienfunktion sind. Zwischen den Medienfunktionen also besteht ein Verhältnis wechselseitiger Inklusion.“ (S. 169) Winkler zerlegt deshalb die drei Medienfunktionen akribisch in ihre Teilfunktionen, wobei sich hier beim Prozessieren ein ärgerlicher Fehler eingeschlichen hat, Prozessieren_1 und Prozessieren_2 in Abbildung 17 (S. 167) und im folgenden Fließtext (S. 169) genau umgekehrt benannt wurden. Als überraschendste Pointe zeigt dieses zweite Kapitel, dass ausgerechnet beim Computer das Prozessieren sich komplett in die beiden anderen Medienfunktionen auflöst, es hier also nur zwei, statt drei Medienfunktionen gibt (S. 229). Das dritte und letzte Kapitel greift die Frage nach dem Verhältnis der drei Medienfunktionen, vor allem in Bezug auf Raum (Übertragen) und Zeit (Speichern) in vier einzelnen Aufsätzen noch einmal auf – denn Medien haben die Eigenschaft „Zeit in Raum, und Raum in Zeit zu übersetzen.“ (S. 235). Wenn Winkler am Ende noch einmal die Ausgangsfragen seines Buches stellt, ist keine endgültig beantwortet. Im Gegenteil – es sind stattdessen einige Fragen hinzugekommen. Statt zu klären, ob das Prozessieren als eindeutig zu bestimmende dritte Medienfunktion gelten kann, haben die anderen beiden Medienfunktionen bei dieser Untersuchung einen Teil ihrer Eindeutigkeit eingebüßt. Auch die Grundannahme, Medien hätten es immer mit Kommunikation zu tun, bröckelt bei der Untersuchung des Prozessierens, weil der Prozessierende dem Medium gegenüber steht und mit ihm bzw. dem Medienprodukt interagiert. Nicht umsonst warnten die Kartographen mit fiktiven Löwen vor dem Betreten solcher noch unerforschter Flecken. Und selbstverständlich wird mit einer Expedition aus einem weißen Fleck noch kein genau kartographiertes Feld – dafür sind die folgenden Werke über das Prozessieren und die Relation der drei Medienfunktionen zuständig.