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DasIgno

Posted on 6.5.2019

Rochdale, Großbritannien, in einer sehr nahen, sehr düsteren Zukunft. Alle düsteren Visionen, die sich im neuen Jahrtausend angedeutet haben, sind so gut wie oder schon Realität. Hohe Arbeitslosigkeit, die Mittelschicht ist in die Armut gerutscht, die Oberschicht versucht auch noch das Letzte an Macht und Geld aus der geknechteten Gesellschaft zu pressen. Totalüberwachung ist real. Überbordende Straßenkriminalität ist real. Die Gentrifizierung macht auch vor den letzten Grundstücken nicht halt. In dieser Welt finden vier Kinder einigermaßen unterschiedlicher Hintergründe auf der Straße einander. Sie sind entwurzelt, schweben zwischen Desillusion und Revolution, und die Pubertät. Oje. Sie schließen sich zusammen, verlassen Rochdale bald und versuchen, sich in London durch den Sumpf zu schlagen. ›GRM: Brainfuck‹ erschien 2019 bei Kiepenheuer & Witsch. Auf 640 Seiten erzählt Sibylle Berg fortlaufend die Geschichten der Kinder und ausgewählter, stereotyper ›Mitglieder‹ der Gesellschaft, die auf die eine oder andere Weise kurz oder lang Einfluss auf ihr Leben haben. Ich würde das Buch irgendwo zwischen Coming-of-Age- und Gesellschaftsroman einstufen, mit satirischen und dystopischen Elementen. Um das gleich vorweg zu nehmen: ›GRM: Brainfuck‹ ist monumental. Wöllte man versuchen, alle Themen, die Sibylle Berg aufgreift, genussvoll durch den Wolf dreht und dann neu formt, aufzulisten, man würde wohl kein Ende finden. Alles an diesem Buch ist gewaltig, selbst so simple Dinge, wie die Gliederung – die durch den fortlaufenden Text kaum existiert und mit zu dem Eindruck beiträgt, einen stetig wachsenden Berg Gewolftes zu erklimmen. Aber zurück zu den Themen, die allesamt nah an ihr pessimistischstes Extremum geführt werden. Als da wären Brexit und damit zusammenhängend Nationalismus und Faschismus, Globalisierung, Gentrifizierung, Misogynie, Armut und Kinderarmut im Speziellen, Klassismus und sozialer Abstieg, Kriminalität, Massenbeeinflussung durch einfach alles, Massenüberwachung durch einfach alles, Social Credit Systeme, Alkohol-, Medikamenten- und Drogenkonsum, Prostitution und Kinderprostitution, Kinderhandel, Kinderpornografie und allgemein Pornografie in allen denkbaren Ausprägungen, Wählermanipulation, künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Technisierung von einfach allem, soziale Medien, Kryptowährungen, Neoliberalismus, Kapitalismus, Industrie 4.0, Privatisierung, Todesstrafe, Schwangerschaftsabbruch, Gentechnik, Klimawandel, Umweltzerstörung, Fleischindustrie … ich könnte noch ewig so weiter machen, es wird kein Ende nehmen. Erwähnte ich schon, dass das Buch gewaltig ist? Ein Kunststück, davon nicht erschlagen zu werden, das Sibylle Berg aber gelingt. Vor allem die vier Kinder Don, Hannah, Karen und Peter sorgen für eine rote Linie durch die Geschichte. Dazu kommt eine sehr angenehme Mischung aus brutaler Dystopie und Satire, so dass man sich oft zwischen Abscheu und Schmunzeln bewegt. Die Side-Storys sind gekonnt mit der roten Linie verknüpft, nichts scheint so wirklich überflüssig, alles erweitert die Sicht. Bergs Sprache – oftmals bis zum Unangenehmen brutal – und der ihr ganz eigene Umgang mit gängiger Interpunktion harmonieren ganz wunderbar mit dem Inhalt und runden ihn auf einer weiteren Ebene ab. Zwischen diesem ganzen Wust erzählt Sibylle Berg eine ein bisschen traurige, aber an sich schöne Coming-of-Age-Geschichte, mit eben den ganzen Problemen, die das so mit sich bringt, wenn man zusätzlich zu diesen Problemen noch sehr früh und sehr schnell auf sehr negative Weise sehr erwachsen werden muss. Dabei sind die Kinder, erstaunlich genug, noch die am Wenigsten durch die gesellschaftlichen und familiären Umstände zerstörten Figuren. ›GRM: Brainfuck‹ ist eine sehr düstere, nicht besonders ferne Zukunftsvision. Eine mögliche Antwort auf die Frage, was passiert, wenn wir die Gesellschaft durch Desinteresse und Selbstsucht vollkommen an die Wand fahren. Es ist auch ein Buch, das anstrengend sein kann und anstrengend sein muss. Was nicht davon abhalten soll, es zu lesen. Wirklich. Denn es ist in vielerlei Hinsicht auch sehr ehrlich.

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