Anka Willamowius
Wie kommt es eigentlich, dass es im Osten Deutschlands immer mehr Rechtsradikale zu geben scheint? Dass es nach dem 2. Weltkrieg überhaupt noch Leute gibt, die Rechtsradikalismus für erstrebenswert halten? Gibt es eine besondere Situation in den neuen Bundesländern, die ja gar nicht mehr so neu sind, 30 Jahre nach dem Mauerfall? Wieso haben manche – zumeist junge Männer -, anscheinend nichts anderes zu tun, als mal so richtig mit der Faust in die Welt zu schlagen? Mit diesen Fragen befasst sich sehr kompetent der Roman von Lukas Rietzschel. Er beschreibt die Familie Zschornack mit ihren beiden Söhnen, Philipp und Tobias, die in dem kleinen Ort Neschwitz in der Lausitz, in der Nähe von Bautzen aufwachsen. Der Vater ist Elektriker, obwohl er in der DDR etwas ganz anderes gemacht hat, die Mutter Krankenschwester. Die Geschichte beginnt im Jahr 2000, als die Zschornacks ein Eigenheim bauen. Tobi geht noch in den Kindergarten, Philipp geht schon zur Schule. In der Nachbarschaft wohnt ein „Offizier“, der einen aus dem Fenster anstarrt. Es gibt auch „Bonzen“, die einen dicken Dienstwagen fahren. In der Nähe gibt es ein altes Schamottewerk und alte Bergbaugruben, die alle nicht mehr genutzt werden. Eines Tages wird der Schornstein eines alten Werks gesprengt, eine Sensation für die ganze Gegend, in der es sonst nicht mehr viel zu kucken gibt. Manchmal machen die Großeltern mit den Jungen einen Ausflug nach Hoyerswerda. Da gibt es im Einkaufszentrum ein Eis bei McDonalds. Die „Männer“ bleiben sitzen, während Oma durchs Einkaufszentrum bummelt, vorbei an vielen geschlossenen Läden, und mal bei Deichmann oder C&A reingeht. Und dann gibt’s da noch den Balkon, an dem sie im Auto vorbei fahren, der schwarz ist vom Ruß. Die Jungen fragen, was dort passiert sei. Aber Opa fährt schnell weiter und Oma kuckt weg. Die Jungen hätten noch mehr Fragen, z.B. als im Fernsehen zu sehen ist, wie zwei Flugzeuge in zwei Hochhaustürme fliegen. Ist das jetzt Krieg? Aber auch darauf bekommen sie keine Antwort. Die Erwachsenen haben ihre eigenen Probleme. Der eine darf nicht mehr zur Arbeit, weil er immer seine Bierflaschen hinter den Kabeltrommeln versteckt. Einem ist die Frau weggelaufen, in den Westen. Ob es stimmt, dass der bei der Stasi war? Gleichgültigkeit ist verbreitet, Sprachlosigkeit. Kein Wunder, wenn es nicht mal für eine Woche Urlaub an der Ostsee im Jahr reicht. Argwöhnisch schaut man auf die Sorben in der Gegend. Die sind katholisch und sprechen eine andere Sprache. Noch schlimmer sind die Polaken, die nur Drogen-Dreck ins Land bringen. Dann kommen Asylanten. Dafür ist plötzlich Geld da, und für Griechenland. „Vor einiger Zeit hatte Vater einen polnischen Arbeitskollegen gehabt, der Granit aus Polen verkaufte. Kaum ein Abend, an dem Vater nicht über ihn geredet hatte. ‚Wenn du da nicht aufpasst, zieht der dich gnadenlos über den Tisch. Die wissen, wie sie dich ausnehmen.‘ (…) ‚Warum sprechen nicht alle Menschen Deutsch?‘, fragte Tobi. ‚Das ist doch die einfachste Sprache. Da sind die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge.‘ Philipp sah ihn von der Seite an. Mutter sagte nichts. Der Pole hatte eindeutig gegrinst. Vater wusste das. Elendiger Bastard.“ (S. 97) Die Jungen orientieren sich im Kreis anderer Jugendlicher, vor allem unter den älteren, die immer mit dem Auto vor der Schule stehen. Bier trinken, rauchen, auch wenn einem zuerst mal schlecht wird davon. Mal „Sieg Heil“ rufen und sich darüber kaputt lachen. Nur dabei sein dürfen, ein bisschen Beachtung finden, damit endlich mal was passiert in diesem Scheißleben. Die Geschichte ist unaufgeregt, besteht aus vielen Details, die zeigen, dass es nicht die eine Ursache des Problems gibt. Es ist ein schleichender Prozess, der nicht nur Jugendliche betrifft, sondern auch viel mit den Erwachsenen zu tun hat. Die großen Fragen des Lebens tun sich auf, nach Identität, Heimat, Werten, Verantwortung. Wer hat sich denn um uns gekümmert?! Neid, Wut, Enttäuschung und Perspektivlosigkeit, das Problem ist vielschichtig. Lukas Rietzschel, der selbst aus der Lausitz und der Generation seiner Protagonisten entstammt, gelingt in seinem Debütroman eine sensible Darstellung dieser ganz normalen Familie, dieser netten Jungs von nebenan, die wir in der Geschichte aufwachsen sehen. Denen fehlt es doch an nichts. Haben ein eigenes Haus, die Eltern arbeiten, die Jungen gehen zur Schule, haben genug zu essen, etwas anzuziehen, können auf den Rummel gehen, bekommen einen Ausbildungsplatz. Also, was fehlt denen? Eine Menge. Mut, Selbstvertrauen und Sinn, Anerkennung, Unterstützung und Vorbilder. Der Roman bietet keine Lösungen an. Aber er macht das Problem deutlich. Für Lösungen sind wir alle verantwortlich in diesem Land. Ein großartiges Buch über ein drängendes Problem. Radikalisierung, ob nach rechts oder in religiöser Richtung, entsteht nicht über Nacht. Unbedingt lesen!