Anka Willamowius
Eine gute Idee für einen Roman hat er, der Ian McEwan. Wie in einer Nussschale sitzt ein 9 Monate alter Embryo im Leib seiner Mutter, mit dem Kopf nach unten, und erzählt uns eine Geschichte. Im Gegensatz zu anderen Geschichten nach ähnlicher Idee – etwa dem Film „Kuck mal, wer da spricht“ – ist dieser ungeborene Junge jedoch so gar nicht kindlich oder niedlich. Er redet geschwollen daher wie ein „Großstadtneurotiker“, gesellschaftskritisch, philosophisch und altklug, gespickt mit Fremdwörtern und Metaphern. Seine Bildung habe er aus den Gesprächen und Radiosendungen erlangt, die er im Mutterleib mit angehört habe, erklärt er dem geneigten Leser. Darüber hinaus hat dieses ungeborene Kind mehr Fähigkeit zur Reflexion der Welt und des eigenen Ich als die erwachsenen Beteiligten der Geschichte. Er sieht klar seine Abhängigkeit von der ihn austragenden Mutter, auch nach der bevorstehenden Geburt, die ihm bewusst ist. Seine Liebe zur Mutter ist getrübt von seinem kritischen Blick auf ihre Schwächen. Der Kleine weiß ferner, welcher der auftauchenden Männer sein Vater ist und empfindet Loyalität mit diesem. Gleichzeitig hält er ihn aber auch für einen ziemlichen Schwächling. Die Geschichte, die uns aus dieser skurrilen Perspektive erzählt wird, ist ein in London spielendes Beziehungsdrama im Dreieck, das sich zu einem echten Krimi entwickelt. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Das Kind ist jedoch nicht nur Beobachter der Geschehnisse, sondern fühlt sich zugleich als Handelnder – obwohl er sich seines beschränkten Aktionsradius‘ aus dem enger werdenden Uterus heraus durchaus bewusst ist. So gut die Grundidee dieser Erzählweise ist, so wenig hat sie mich mitreißen können. Die Idee ist originell, trägt aber nur die ersten paar Seiten lang. Die Dreiecksgeschichte ist nicht ohne Spannung, jedoch hätte es nach meinem Empfinden weiterer Finessen bedurft, als nur dieser ungewöhnlichen Perspektive allein. Immer wieder erinnert uns der Autor an die Position des Erzählers im Mutterleib, indem er das Kind Zeuge von Geschlechtsakten der Mutter werden lässt, die buchstäblich nur Zentimeter von seinem Köpfchen entfernt stattfinden. Die Idee wurde aus meiner Sicht etwas überstrapaziert. Der Roman ist unterhaltsam, auch spannend, aber der Altherrenton dieses verkopften Embryos voll Selbstmitleid ging mir bald auf die Nerven. Meine Sympathie hat der Junge das ganze Buch hindurch nicht gewonnen (was wohl auch nicht gewollt ist). Als der Kleine hört, dass jemand der Mutter vorschlägt, das Baby nach der Geburt wegzugeben, ist er nicht nur empört, sondern malt sich seine Zukunft in der Londoner Unterschicht zynisch-wissend wie folgt aus: „Raised bookless on computer toys, sugar, fat and smacks to the head. Swat indeed. No bedtime stories to nourish my toddler brain’s placticity. The curiosityfree mindscape of the modern English peasantry. (…) Poor me, poor buzz-cut, barrel-chested three-year-old boy in camouflage trousers, lost in a haze of TV noise and secondary smoke. His adoptive mother’s tattooed and swollen ankles totter past, followed by her labile boyfriend’s pungent dog.” (S. 43/44) Ein netter Unterhaltungsroman, der meinen Geschmack aber leider nicht getroffen hat.