Anka Willamowius
Dies ist bereits der dritte Band der Couchsurfing-Reihe, den Stephan Orth, seines Zeichens Reisejournalist, vorlegt. Couchsurfing bedeutet, dass man ein Land bereist, indem man in Privathaushalten auf der Couch übernachtet und so das Land von einer privateren Seite kennenlernen kann als bei einem Hotelaufenthalt. Über eine gleichnamige Website nimmt der Reisende Kontakt zu Einheimischen auf, die dann eine Einladung zur Übernachtung aussprechen können. Auf diese Weise ist Stephan Orth drei Monate lang quer durch China gereist. Stephan Orth hat einen lockeren Reisebericht geschrieben, der sich leicht und vergnüglich liest, dabei jedoch sehr informativ ist. Der Text wird durch viele Fotos ergänzt. Das Buch beginnt mit einem Einblick in die Reiseplanung. Da muss natürlich ein Visum beantragt werden. Der Autor wurde zum persönlichen Gespräch in das chinesische Konsulat in Hamburg vorgeladen, schließlich war den chinesischen Behörden bekannt, dass er Journalist ist. Die Leserin zittert mit, wenn er beschreibt, wie er seine wahre Absicht ein Buch über China zu schreiben, verheimlichen muss, damit ihm die Einreise gestattet wird. Sind die Chinesen so leichtgläubig? Wer weiß, woran es gelegen hat, dass ihm das beantragte Visum für drei Monate tatsächlich ausgestellt wurde. Sodann begleiten wir Stephan Orth zu seinen verschiedenen Gastgebern. Zwar spricht er ein wenig Chinesisch, verständigt sich mit den Gastgebern aber zumeist auf Englisch. Er bereist Großstädte ebenso wie ländliche Regionen. Unter den Gastgebern findet sich ein Autoverkäufer, der eigentlich Programmierer ist, eine Künstlerin sowie eine Fernsehjournalistin. Nebenbei kommt ferner ein Guru mit eigener Sekte vor, aber eben auch ganz normale Leute der Mittelschicht. Das Buch bietet keinen repräsentativen Querschnitt des ganzen Landes. Das wäre angesichts des Ausmaßes und der Vielfalt Chinas wohl auch zu viel verlangt. Stephan Orth kommt den Menschen, denen er begegnet, aber recht nah, so dass die Berichte sehr authentisch wirken. Für den deutschen Leser besonders auffällig und auch besorgniserregend sind die Berichte über die technische Überwachung der Menschen in China. Überall hängen Videokameras, jeder hat ein Smartphone sowie einen Ausweis, auf dem viele persönliche Daten gespeichert sind. Bezahlt wird per Handy. Der gläserne Mensch ist hier bereits Wirklichkeit. Derzeit noch im Modellversuch ist ein System von „Sozialpunkten“, mit denen der Staat erwünschtes Verhalten belohnt und unerwünschtes Verhalten sanktioniert. Wer eine Fußgängerampel bei rot überquert, bekommt Punktabzug. Sein Gesicht wird für alle sichtbar von der Videokamera eingefangen und öffentlich gezeigt mit Benennung des Vergehens. Eine Polizistin berichtet, dass sie Punkte gutgeschrieben bekomme, wenn sie freiwillig die Position ihres Aufenthaltsortes ständig meldet (auch außerhalb der Dienstzeit). Insgesamt lernen wir China als Hightechland kennen, mit Hochgeschwindigkeitszügen, die auf die Minute pünktlich verkehren, Elektromobilität, die deutlich weiter entwickelt ist als hierzulande, mit Smartphone-Nutzung für fast jede alltägliche Verrichtung und einer boomenden Wirtschaft. Das Land strebt nach einer globalen Vormachtstellung im Technikbereich. Wenn man diese rasante Entwicklung geschildert bekommt, fühlt man sich in Deutschland plötzlich ziemlich rückständig. Die Chinesen scheinen die rasend schnellen Umwälzungen in ihrem Land gelassen zu nehmen. Für sie scheint es selbstverständlich zu sein, dass Leben Veränderung bedeutet. Keiner träumt von der beruflichen Lebensstellung, in der man dreißig Jahre lang in der gleichen Branche bleibt. Stephan Orth beleuchtet auch die Stellung von ethnischen Minderheiten in China, etwa den muslimischen Uiguren, die von der Regierung in großer Zahl zwangsweise in „Umerziehungslager“ verbracht werden. Er begegnet auch den Tujia, die ihre bunten, traditionellen Trachten zunehmend anziehen, um Touristen anzulocken. Interessant sind besonders die Schilderungen persönlicher Gespräche mit den verschiedenen Menschen, ihrer Sichtweise auf das eigene Land und die Welt. Da gibt es einen, der das Wort „Deutscher“ in freundlichem Ton mit „Faschist“ gleichsetzt. Oder das Unverständnis der Chinesen gegen das Misstrauen des Deutschen bezüglich der Videoüberwachung. Ist es nicht viel ungeheuerlicher, dass in Europa in aller Öffentlichkeit Straftaten begangen werden können, ohne dass die Täter jemals gefasst werden? Ist doch mit Videokameras und anschließendem Abgleich mit den Passbildern sämtlicher Chinesen kein Problem! Andererseits seien deutsche Gesetze wohl sehr streng, da müsse man aufpassen. Hätten doch ein paar chinesische Touristen erheblichen Ärger bekommen, bloß weil sie vor einem alten Gebäude in Berlin (dem Reichstag) eine Handbewegung (den Hitlergruß) gemacht und sich dabei fotografiert hätten. Chinesische Kultur sei seltsam? Da sollen die Deutschen sich doch erstmal mit Grimms Märchen beschäftigen. In Schneewittchen küsst ein Mann eine minderjährige Tote. Ist das nicht Pädophilie und Nekrophilie? Ekelhaft! Natürlich kommt auch das obligatorische Festmahl vor, bei dem zu Ehren des langnasigen Gastes ein Hund geschlachtet wird. Lesenswert ist auch die Rechtfertigung der Pressezensur: „Wir beschreiben Probleme nicht so detailliert, weil die Leser sie sowieso nicht selbst lösen können.“ (S. 103) Herrlich amüsant lesen sich Orths humorige, teils ironische Formulierungen, mit denen er seine Reise beschreibt. „Ein kettenrauchender Motorradtaxifahrer, dessen Verhältnis zu Verkehrsregeln improvisatorischer Natur ist, bringt mich hin, über Bürgersteige, rote Ampeln, Zebrastreifen und gelegentlich mitten im Gegenverkehr.“ (S. 72) Ein sehr lesenswerter, unterhaltsamer Reisebericht, bei dem man viel Neues über China dazu lernt und seine eigene Perspektive in Frage stellen muss.