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lermann

Posted on 13.3.2019

Die Reime von Kate Tempest, die eigentlich für den Live-Vortrag gedacht sind, in ein Taschenbuch zu drucken, mit der Übersetzung auf der gegenüberliegenden Seite, bedeutet eine Zähmung, die man als deutscher Leser gerne in Kauf nimmt. Dass wir hierzulande die modernen Poeten aus England und USA oft in freudloser Suhrkamp-Ästhetik lesen, daran haben wir uns gewöhnt. Der große Vorteil einer solchen Ausgabe: Man kann die sonst schnell rausgefeuerten Sätze in Ruhe im eigenen Tempo lesen und bei Unsicherheiten auch mal die Augen über die deutsche Übersetzung wandern lassen. Nicht jeder kann einem Slam-Poetry-Vortrag lückenlos folgen. Die Gedichte bezeugen die hohe Musikalität der Autorin, die James Joyce und Charles Bukowski genauso verehrt wie den Wu-Tang Clan. Hinter ihrer rauhen Sprache steckt oft der liebevolle Blick auf die Menschen in ihrer Hood. Ihre Bilder sind stark und wir dürfen ganz nah dabei sein. Der Band ist keine lose Sammlung von Gedichten, sondern hat Konzept. Tempest ist fasziniert von der Teiresias-Sage (schon bei ihrer Spoken Word Performance “Brand New Ancients” (2012) gab es den Bezug zu den antiken Helden). Der blinde Seher Teiresias soll uns als Vorbild bei unserer Selbstsuche dienen und uns lehren, „Was es heißt: sich zu behaupten“. Nur sind wir damit beschäftigt, „im Netz Identitäten sammeln / Und in unsere Smartphones glotzen“. Tempest lässt Teiresias in verschiedenen Figuren auftreten: als 15-jährigen Schüler, als junge Frau, als erwachsenen Mann und als alten tattrigen Propheten auf der Straße, der dazu verurteilt ist, die Wahrheit zu sagen, die sich in einer neoliberalen Gesellschaft niemand mehr anhören möchte. Ganz im Gegensatz zu so vielen anderen Spoken-Word-Künstlern zeigt sie ihre Kampfbereitschaft nicht durch Aüßerlichkeiten. Auch mit mittlerweile 31 Jahren sieht sie der 16-Jährigen, die damals die Spoken-Word-Bühne zum ersten Mal betrat, immer noch sehr ähnlich. Goldene Locken beben um die erhitzten Wangen. Tempest ist in Südlondon aufgewachsen und kann bereits auf einen reichen Lebenserfahrungsschatz zurückblicken, den Sie in Ihrer kraftvolle Sprache durch ehrliche und bodenständige Weisheiten auf den Punkt bringt. Dabei ist sie “mehr als modern, sie ist praktisch Science Fiction”, lobt The Guardian. Streetsmart nennt man das auch. Wir brauchen Dichter, die mitten unter uns leben und uns verstehen wollen. Wir selbst sind dafür zu beschäftigt mit dem Polieren unserer Online-Profile.

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