Marc Lippuner
Ein Kuss in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Gepostet in den sozialen Netzwerken. Shitstorm. Scham. Und wie es dazu kam. So lässt sich dieser Coming-of-Age-Roman von Lena Gorelik in aller Kürze zusammenfassen. Gepackt hat er mich leider nicht. Die Sprache eigenwillig schön, beinahe spröde – Hauptsatz reiht sich an Hauptsatz, und so bekommt die erzählende 17-Jährige jenen Duktus, an den ich mich aus verbockt-verliebten Teenagerzeiten noch dunkel erinnere: eine latente, aber grundsätzliche Abwehrhaltung, ein bisschen Widerstand, aus Trotz vermutlich und aus Prinzip. Die geschriebenen Worte, eine Melange aus Schuldzuweisung, Scham und Rechtfertigung, richtet die Erzählerin an den angehenden Lehrer, in den sie nicht ganz heimlich verliebt ist. Das ist nicht der, den sie in Auschwitz küsst, obwohl sie ihn gern küssen würde. Überall, aber vielleicht nicht dort. Dort, neben einem Galgen, küsst sie ihren besten Freund, der heimlich, aber nicht ganz heimlich, in sie verliebt ist. Und so ist das Foto, das im Netz für Entrüstung sorgt, eines, das gut in Shahak Shapiras #Yolocaust-Projekt gepasst hätte. Der Roman greift die Diskussion um den respektlosen Umgang junger Leute mit der deutschen Erinnerungskultur auf, koppelt sie jedoch an eine für meinen Geschmack zu banale und selbstreferenzielle Vorgeschichte. Aber: Als Schullektüre könnte Goreliks Roman vielleicht ein zeitgemäßer Auftakt für eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte sein.