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Posted on 25.12.2018

Alessandro Barbero ist Historiker und Dozent für Mittelalterliche Geschichte, hat allerdings neben einem Buch über Karl den Großen, sich wissenschaftlich auch mit der Schlacht bei Waterloo beschäftigt und einige Romane verfaßt, von denen allerdings nur dieser ins Deutsche übersetzt worden ist. Formal angelehnt an die Lebensbeschreibungen von Giacomo Casanova oder die Reisejournale von Lawrence Sterne oder Samuel Johnson ist dieser Roman eine äußerst detaillierte Reisebeschreibung quer durch das spätere deutsche Staatsgebiet, dessen erste Vereinigungsbestrebungen ausgerechnet durch Napoléon Bonaparte mit der Schaffung eines Süddeutschen Bundes angestoßen werden. Akribisch rekonstruiert Barbero Gebäude - von den einfachsten Landgasthöfen bis zu den Fürstenresidenzen, erkundet Stimmungen und Lebensgewohnheiten bei Bauern, Soldaten, Bürgern, Adligen und Politikern, schildert Begegnungen mit Geistesgrößen wie Jean Paul oder Goethe, mit Militärs wie General von Blücher oder dem späteren Militärtheoretiker von Clausewitz, und selbst der spätere, antisemitisch geifernde, Turnvater Jahn läuft seinem Ich - Erzähler Robert Pyle über den Weg. Pyle selbst ist Hedonist, dem leiblichen Wohl, zu dem er auch seine nicht unterentwickelte Sexualität rechnet, nicht abgeneigt, überzeugter Demokrat und steht der deutschen Kleinstaaterei und dem politischen Durcheinander eher leicht überheblich gegenüber. Daß ihn die Vereinigten Staaten, die weder über ein stehendes Heer verfügen (wollen), noch von der Notwendigkeit diplomatischer Beziehungen wirklich überzeugt sind, finanziell an der kurzen Leine halten, fuchst ihn allerdings denn doch. Die Stärke dieses mit dem Premio Strega ausgezeichneten Buches ist allerdings gleichzeitig seine (nicht allzu große) Schwäche : auf über siebenhundert Seiten kann die Detailfreudigkeit, das akribische Beschreiben auch der letzten Kleinigkeit ab und an recht ermüdend sein, zumal die Erwartungen an einen eher konventionellen historischen Roman schlicht nicht erfüllt werden. Wer also eine - kompakte - (Abenteuer) - Geschichte erwartet oder die Entwicklung des Protagonisten erhofft, wird eher enttäuscht. Zwar hat auch dieser Roman seinen Beginn und einen Endpunkt, der den Ausgang einer - politischen - Entwicklung beschreibt, ist aber dennoch eher - fiktives - Journal und durch die Details recht weitschweifige Lebensgeschichte : immerhin werden auf knapp siebenhundertdreißig Seiten gerade vier Monate - von Juli bis Oktober 1806 abgehandelt. Dennoch hat genau dies, zumindest für den Leser, der etwa an Casanovas "Geschichte meines Lebens" in etlichen Bänden Gefallen gefunden hat, seinen Reiz. Mag auch die Gesamtsicht des Autors und Historikers Barbero eher modern sein, beläßt er seine Figuren in ihrer eigenen Geschichtlichkeit, modernisiert in keinem Fall ihr Denken oder transportiert durch sie oder ihre Handlungen Allegorien auf die Gegenwart. So ist etwa auch sein Protagonist Pyle keineswegs frei von dem in Europa grassierenden und durch Jahn vehement vertretenen Antisemitismus, der auf finstere zukünftige Entwicklungen weist, doch persönliche Begegnungen - etwa mit Rahel Varnhagen - relativieren dann doch dessen Vorurteile stark. Ebenfalls äußerst positiv aufgefallen sind mir die Schilderungen der Kriegshandlungen : weder heroisch noch maschinenhaft agierend kommen seine Soldaten daher. Auf einen Angriff folgen zunächst meist kopflose Fluchtversuche, die nur mit Mühe gebändigt und in wirkliche Kampfhandlungen überführt werden können. Und das gilt für Preußen und Franzosen. Auch wenn alles Geschilderte - zwangsläufig - mehr oder weniger fiktiv ist, sobald der Autor die großen Handlungslinien von Politik und Krieg verläßt, erweckt dieses Buch einen angenehmen Eindruck von Authentizität. Barbero beläßt die real - historischen Vorgänge, die ja eh zumeist in Paris oder London stattfinden, eher im Hintergrund, ohne sie jedoch vollkommen aus den Augen zu verlieren. Stattdessen beschäftigt er sich lustvoll mit der realen Erlebniswelt seiner Figuren, mit ihren Persönlichkeiten und Charakteristika. Mag auch Pyle nicht wirklich begeistert von Deutschland bzw. dessen Fürstentümern und Königreichen sein - der Autor Barbero ist es anscheinend allemal. Beinahe liebevoll hat er sich in diesem Roman dem Wendepunkt einer historischen Epoche und den Auswirkungen auf eine damit konfrontierte vielschichtige Gesellschaft gewidmet. Für mich war dieses Buch, das allzu lange ungelesen in meinen Regalen stand, eine interessante, informative und durchaus unterhaltende Lektüre, die allenfalls ein wenig Lesedisziplin abverlangte.

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