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buchstabenpoesie

Posted on 29.7.2025

Anne Sauers Roman „Im Leben nebenan“ hat mich von der ersten Seite an berührt. Die große Beliebtheit des Buches und der ansprechende Klappentext haben mich überzeugt, das Buch direkt zu lesen. Allerdings verrät der Klappentext bei weitem nicht, was für eine tiefgehende Geschichte sich hier tatsächlich verbirgt. Im Mittelpunkt steht die Protagonistin Antonia bzw. Toni, wir lernen beide mit ihren verschiedenen Lebensentwürfen kennen. Damit knüpft die Autorin an den spannenden Satzanfang „Was wäre, wenn…“ an. Denn in einem Leben ist Toni mit Jakob zusammen, sie wünscht sich sehnlichst ein Kind und durchlebt dabei all die schwierigen, schmerzhaften Prozesse des unerfüllten Kinderwunsches. Im anderen Leben erwacht sie plötzlich als Antonia, hat auf einmal ein kleines Baby, ist mit ihrer Jugendliebe Adam zusammen, doch trotzdem unglücklich. Sie fühlt sich in ihrem Körper fremd, leidet an Schwangerschaftsdepressionen, hat Schwierigkeiten mit ihrem Kind, Konflikte mit ihrer Schwiegermutter und erlebt die Beziehung zu ihrem Vater auf ganz andere Weise als im „anderen“ Leben. Besonders stark macht das Buch, dass es so nah an meiner eigenen Altersgruppe liegt und damit ein Thema aufgreift, mit dem viele in dieser Lebensphase konfrontiert sind. Dennoch ist es ein Roman, der auch darüber hinaus für Leser:innen jeden Alters relevant bleibt, weil er universelle Fragen nach Familie, Gesellschaft und Selbstbestimmung aufwirft. Kinderwunsch, Kinderlosigkeit, Mutterschaft, gesellschaftliche Erwartungen und die ambivalenten Gefühle rund um all diese Themen werden hier in einer Tiefe erzählt, die sowohl schmerzhaft als auch heilsam ist. Mich hat beeindruckt, wie viel Schmerz, wie viele Gedanken und wie viel Recherche in diesem Buch stecken. Anne Sauer hat Figuren erschaffen, die so greifbar und lebendig sind, dass ich mich gut in sie hineinversetzen konnte. Die Perspektiven Antonia/Toni haben mich von Anfang bis Ende gefesselt. Sie sind stark herausgearbeitet, voller Facetten und Widersprüche, sodass man direkt mitfühlt. Ein ganz besonderer Pluspunkt ist der Schreibstil. Anne Sauer schreibt so schön, so poetisch, dass viele Sätze zitierwürdig sind. Immer wieder habe ich Stellen gefunden, die ich mir am liebsten angestrichen hätte, weil sie das Leben und die Gefühle so treffend schildern. Am Ende lässt die Autorin bewusst offen, welches Leben „besser“ oder „richtiger“ ist. Beide Versionen zeigen Licht und Schatten. Dadurch gelingt es ihr, die Rolle der Frau und Mutter in all ihren Facetten, den Erwartungen, Normen und Herausforderungen, die unsere Gesellschaft noch immer vorgibt, darzustellen. Für mich ist „Im Leben nebenan“ ein absolutes Highlight, ein Buch, das lange in meinem Herzen bleiben wird. Es hat mich gleichzeitig traurig, nachdenklich und glücklich gemacht, mich gesehen und verstanden fühlen lassen.

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