
biancaneve66
Die Wellenkinder und die verlorene Zeit Der Fischer Joseph findet im Winter 1900 einen leblosen Jungen am Strand von Skerry, einem Dorf an der schottischen Küste. Das Kind erinnert alle an den Sohn der Lehrerin Dorothy, der vor langer Zeit nachts verschwand. Die Gegenwart des Kindes bringt dem ganzen Dorf die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis und wirft Fragen auf. Dass gerade Dorothy den fremden Jungen vorläufig aufnimmt, verwundert. Und warum war Joseph in der Nacht des Verschwindens von Dorothys Sohn am Strand und findet dort nun ausgerechnet den Jungen? Warum hat Joseph mit Dorothy gestritten? Eigentlich waren die beiden ineinander verliebt, ohne je ein Paar gewesen zu sein ... Das Cover ist schlicht in meerblau und schwarz gehalten; ein einsames Haus auf einer Klippe trotzt den tosenden Wellen. Der Originaltitel „The Fisherman´s Gift“ wurde abgewandelt, aber beide Titel passen sehr gut zur Geschichte; genau wie die gesamte Übersetzung durch Claudia Feldmann perfekt gelungen ist. Alternierend werden die Abschnitte auf den beiden Zeitschienen der Gegenwart und der Vergangenheit erzählt. Dabei ist jedes Kapitel immer aus der Sicht eines der mitwirkenden Charaktere erzählt. Diese Zeit- und Perspektivenwechsel sind gut aufeinander abgestimmt und ergeben einen sehr harmonischen Text. Jeder einzelne Charakter ist sehr außerdem lebensecht und auch sehr genau beschrieben. Dadurch erhält der Leser nach und nach ein vollständiges Bild der Geschehnisse, aber vor allem auch der Gedanken und der Gefühle der Handelnden. Somit erfährt man bis zum Ende alles Wichtige aus deren Leben, und alle ihre Handlungen sind schlüssig erklärbar – und berühren einen tief. Die Geschichte verfügt über einen perfekten Spannungsbogen, der sehr langsam entsteht und es bleiben am Ende keine entscheidenden Fragen offen. Der ruhige Schreibstil ist sehr ansprechend, an vielen Stellen poetisch. In der Gegenwartsform verfasst, geht einem als Leser alles Geschriebene sehr nah. Der Stil passt außerdem großartig zur gesamten Atmosphäre. Man kann sich das harte Leben in dem abgeschiedenen Fischerdorf und die gesamte Umgebung genau vorstellen. Irgendwie hat mich das Vorhandensein eines Teddybären zunächst irritiert. Gab es solche Stofftiere damals schon? Im Grunde ist das aber auch egal. Denn das Wesen von uns Menschen ist an keinen Ort und an keine Zeit gebunden. Was Moralvorstellungen und Konventionen angeht, ist die Geschichte sicherlich gut in diesem einsamen Fischerdorf Ende des 19. Jahrhunderts aufgehoben. Aber eigentlich könnte sie immer und überall spielen. Getuschel und Lügen, Geheimnisse und Missverständnisse, Stolz und verpasste Chancen, Pflichtgefühl und Familie, Wiedergutmachung und Loslassen, Einsamkeit und Ungesagtes, Liebe und Hoffnung, die Anzahl der Themen ist schier endlos – und alle diese Themen trafen früher schon und treffen auch heute noch auf uns zu. Und immer wieder tragen Menschen einen Kampf mit sich selber aus, tragen etwas mit sich herum, oft jahrelang, ohne je mit jemandem darüber gesprochen zu haben. Im Lauf der Lektüre bekam ich immer mehr den Eindruck, dass die Autorin das Wesen der Menschen sehr gut erfasst hat. Ich möchte sogar sagen, dass es sich bei ihr um eine Person handelt, die ganz genau begriffen hat, worum es im Leben wirklich geht. Das erkannt zu haben, ist eine Sache, diese Erkenntnis dann aber auch noch in Worte fassen zu können, ist eine wahre Kunst. Für mich stellt dieses Buch daher ohne Frage den literarischen Höhepunkt dieses Jahres dar.