
herbstrose
Eine Ehe zerbricht England, anfangs der 1950er Jahre. Seit zwölf Jahren ist die feinfühlige, etwas verträumte Imogen mit dem wesentlich älteren, eher spröden Kronanwalt Evelyn verheiratet. Es war keine Liebesheirat, aber in der englischen Oberschicht durchaus passend. Das Paar bewohnt samt Personal ein Anwesen auf dem Lande, während Evelyn auch in London eine kleine Wohnung hat, die er seiner Arbeit wegen wochentags bewohnt. Mit Stolz präsentiert er bei Veranstaltungen und auf Festen seine hübsche, elegante junge Frau. Dann lernt das Paar die Besitzerin des Nachbar-Anwesens kennen, die ältere, eher reizlose Blanche. Sie versteht es, Evelyn mit langen Gesprächen über die Jagd, über Fischen, aber auch über Bankgeschäfte zu fesseln und sein Interesse zu wecken. Mehr und mehr verbringt er seine Zeit bei Blanche. Wie lange kann Imogen das hinnehmen und die Fassade einer glücklichen Ehe aufrecht erhalten? Elizabeth Jenkins, geb. 1905 und gest. 2010 als 105jährige in Hampstead, London. Sie schrieb zahlreiche Romane, Biografien und Novellen, die sie zu einer der führenden Autorinnen Großbritanniens machten. Ihr Roman „The Tortoise and the Hare“ aus dem Jahre 1954 wurde jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt und erschien unter dem Titel „Die Nachbarin“ 2025 im Suhrkamp-Verlag. Mit psychologischem Scharfsinn und sehr präzise beobachtet die Autorin das allmähliche Auseinanderbrechen einer Ehe. Mit viel Ironie behandelt sie die Themen Beziehung und Eifersucht und wirft dabei die Frage auf, wie gut man einen Menschen wirklich kennt. Ohne in Klischees zu verfallen schildert sie das weibliche Rollenverhalten der damaligen Zeit, beeinflusst vom herrschenden gesellschaftlichen Druck – und im Gegensatz dazu das männliche Benehmen mit seiner überheblichen Dominanz. Die Protagonisten sind sehr gut gezeichnet. Beide Frauentypen unterscheiden sich im Wesen ganz klar voneinander und auch alle anderen Figuren wirken lebensecht und authentisch. Fazit: Ein ruhiger, ironischer Gesellschaftsroman mit psychologischem Tiefgang über Ehe und soziales Verhalten – auch heute noch interessant und lesenswert!