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monsieur

Posted on 22.7.2025

Biografie mit gesellschaftskritischer Relevanz In ihrer Heimat hat sich Cristina Rivera Garza mit ihren literarischen Sachbüchern bereits einen Namen gemacht. Doch mit „Lilianas unvergänglicher Sommer“, ihrem neuesten Werk, hat sie sich nicht nur ein ganz persönliches Thema vorgenommen, sondern gleichsam ein literarisches Denkmal gesetzt, das internationale Anerkennung finden konnte: 2024 wurde sie für diesen autobiografischen Roman mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Das Buch ist mehr als ein Rückblick – es ist eine Anklage, ein Nachruf, eine biografische Aufarbeitung und nicht zuletzt ein feministisches Manifest. Im Zentrum des Romans steht der gewaltsame Tod von Garzas Schwester Liliana, die vor knapp 29 Jahren von ihrem damaligen Partner Ángel ermordet wurde. Ein Femizid – so lautet das zentrale Anliegen der Autorin. Sie will den Mord nicht einfach als „Verbrechen aus Leidenschaft“ verstanden wissen, wie es die mexikanischen Behörden damals klassifizierten, sondern ihn in den gesellschaftlichen Kontext patriarchaler Gewalt stellen. Dieser Anspruch durchzieht das gesamte Buch. Bereits der Einstieg des Romans macht klar, dass Cristina Rivera Garza mit diesem Buch ein großes Ziel verfolgt: die Abrechnung mit einem System, das jahrzehntelang die strukturelle Gewalt gegen Frauen leugnete. In fast wütender Tonlage schildert sie, wie ihre Familie mit institutioneller Ignoranz, juristischer Trägheit und sprachlicher Verharmlosung konfrontiert wurde. Die ersten fünfzig Seiten wirken streckenweise polemisch, geradezu schneidend in ihrer Anklagehaltung. Immer wieder bringt Rivera Garza dieselben Vorwürfe vor – ohne sie in dieser Phase ausreichend zu kontextualisieren oder argumentativ zu unterfüttern. Für Leser, die sich einen erzählerischen Zugang erhoffen, kann dies zunächst ermüdend sein. Die Autorin verlangt Geduld – eine Geduld, die sich jedoch im weiteren Verlauf bezahlt macht. Denn sobald sich Garza der Geschichte ihrer Schwester widmet, entfaltet der Roman seine wahre Stärke. „Lilianas unvergänglicher Sommer“ wird zu einer einfühlsamen, romanhaft geschriebenen Biografie. Die Autorin rekonstruiert Lilianas Leben mit liebevoller Präzision, beschreibt Stationen ihres Werdegangs, ihre Interessen, ihre Träume – und vor allem ihr Wesen. Es sind die kleinen Beobachtungen, die leisen Gesten, das zarte Erinnern, das die Figur Liliana lebendig werden lässt. Hier wird deutlich, wie tief die Verbindung der Schwestern war und wie sehr Lilianas Wesen das Leben der Autorin geprägt hat. Diese Feinfühligkeit im Porträt ist einer der großen Pluspunkte des Buches. Die Autorin schreibt mit bemerkenswerter Beobachtungsgabe, zeigt Nuancen von Lilianas Charakter, schildert ihre Entschlossenheit, ihren Humor, ihre Verletzlichkeit. Es sind intime, sehr persönliche Momente, an denen die Leser teilhaben – auch wenn Liliana in gewisser Weise idealisiert wird. Gleichzeitig stößt die narrative Zuspitzung der Geschichte auf gewisse Schwächen. Besonders durch den Kontrast zur polemischen Einleitung entsteht eine Spannung: Während dort das Ziel formuliert wird, den Mord an Liliana eindeutig als Femizid zu klassifizieren, bleibt die tatsächliche Geschichte – zumindest aus literarischer Sicht – ambivalent. Ángel, Lilianas Freund und Mörder, wird von Anfang an als gewalttätiger, kontrollsüchtiger und gefährlicher Mensch dargestellt – fast klischeehaft wie ein Bösewicht aus einem Krimi. Warum Liliana trotz allem mit ihm eine Beziehung führte, bleibt unklar. Dies erschwert eine differenzierte Rezeption, weil die Figuren teilweise zu stark typisiert erscheinen. Die emotionale Nähe der Autorin zu ihrer Schwester ist verständlich, doch nimmt sie der Darstellung auch jene Ambivalenz, die einem literarischen Werk oft Tiefe verleiht. Der Vorwurf, dass Liliana – durch ihre Eigenständigkeit und ihren Widerstand gegen patriarchale Rollenzuweisungen – besonders „gefährdet“ gewesen sei, wird implizit zwar aufgegriffen, aber nicht immer überzeugend entkräftet. Garza bleibt in Teilen eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Dynamik dieser Beziehung schuldig. Hier hätte mehr analytische Tiefe dem Anliegen des Buches dienlich sein können. Dennoch: Cristina Rivera Garza hat ein wichtiges Buch geschrieben. Es ist ein Werk, das aufrüttelt, das Fragen stellt, das fordert. Besonders in Ländern wie Mexiko, wo Frauenmorde erschreckende Alltäglichkeit besitzen, ist „Lilianas unvergänglicher Sommer“ ein literarischer Weckruf. Dass Garza mit ihrer Geschichte eine große Zielgruppe erreicht – und dank des Pulitzer-Preises nun auch international –, ist ein bedeutender Erfolg für die Autorin.

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