
Buchdoktor
Crown Royal, ein neues tödliches Virus, hat die Welt im Griff. Wer überlebt, bleibt immun, doch die wenigen Genesenen haben sich offenbar zu empathischen, verträglichen Menschen verändert und gefährden so die gewohnte Klassengesellschaft. Parallel-Gesellschaften ringen um Einfluss und Bevölkerungsmehrheit: die wachsende Gruppe beinahe sektenartig agierender Genesener, die Ihresgleichen mit offenen Armen aufnehmen und versorgen werden, und zwei finanzstarke Unternehmen, die eigene Interessen verfolgen. Reichtum ist offenbar wertlos geworden; gleich mehrere Figuren schütteln ihren Besitz ab und reisen in ein neues Leben. Auf verschiedenen Kontinenten reagieren Neal Shustermans Figuren auf eine veränderte Welt. Mariel Mudroch und ihre Mutter Gena in den USA haben alles verloren. Blas Escobedo produziert Hochtechnologie-FFP2-Masken und will seinen 16-jährigen Sohn und Nachfolger Ron endlich auf eigenen Füßen sehen. Die 19-jährige hochbegabte Morgan Willmon-Wu reist aus der Schweiz nach England, um sich um einen Job bei der reichen, hochbetagten Glynis Havilland zu bewerben. Die Patientin findet besonderen Gefallen daran, dass ihre neue Pflegerin so kratzbürstig wie abgebrüht ist, genau die Persönlichkeit, die sie sich vorgestellt hat, um wie eine Rachegöttin das Virus zu beseitigen. In der Schweiz bleibt Morgans demente Mutter mit einer angestellten Pflegerin zurück. Glynis benötigt nicht nur einen Super-Spreader für die Forschung, sondern auch ein Hochsicherheitslabor vom Format des Saatgutspeichers in Spitzbergen. Auf der Seite „der Guten“ organisiert Dellberg Zello das alternative Wohnprojekt Pier-Peer-Kollektiv, das die wachsende Zahl von Obdachlosen unterbringen wird. Neben dem spannenden Bürgerkrieg zwischen Genesenen und ihren Widersachern geht es hier auch um Macht und Einfluss von obszönem Reichtum, Wertverlust, Klassismus, diverse ethische Fragen und den Nachfolgekonflikt in Unternehmen. Fazit Shusterman versetzt seine Leser:innen mit aufwühlendem Seuchen-Wortschatz zurück in die Zeit der jüngsten Pandemie. Plot und Figuren finde ich originell, allerdings wirkten die Figuren seltsam matt und konturlos. Von den Gallionsfiguren Ron und Morgan erfahren wir, dass er 17 und sie 19 Jahre alt ist, die anderen Figuren sind „alt“, so wie Jugendliche sie beschreiben würden – und Glynis ist sehr alt. Keine Figur wird in ihrer Peer-Gruppe oder Familie gezeigt, so dass ich als Leser:in erleben kann, was sie ausmacht. Im postapokalyptischen Szenario ist die Vereinsamung und Entwurzelung der Menschen zwar realistisch, für einen fast 600-Seiten-Roman genügt mir die Konturenlosigkeit der Figuren jedoch nicht. Ein reiner Near-Future Jugend-Thriller (die englische Ausgabe ist für Leser:innen ab 12 empfohlen, die deutsche ab 14) mag so funktionieren, für ein Buch, das sich an alle Generationen richtet, genügt es mir nicht.