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mabuerele

Posted on 12.7.2025

„...Wir sind eine Summe aus Rohren, sind gestapelter Stein, verputzte Mauer, ein Labyrinth aus Wand und Decke, das in unserem Inneren jede Bedeutung verliert, wir sind Treppen und Toiletten, Fensterglas und Müllversorgung...“ Mit diesen Zeilen beginnt ein ungewöhnliches Buch. Hier erzählt ein Haus seine Geschichte, auf sehr leise und eindringliche Art. Übrigens: Das Zitat ist der Anfang eines Satzes, der sich über vier Seiten zieht. Das Haus ist also viel mehr. Der Schriftstil hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Mal beschreibt er die Gegenwart, mal die Vergangenheit. An anderen Stellen verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit oder wechseln alle zwei Sätze die Position. „...Auf unserer Treppe ist immer Umzug, da wird stets eine neue Tür hoffnungsvoll aufgeschwungen oder die vertraute endgültig geschlossen...“ In der Gegenwart leben neben vielen anderen im Haus die 90jährige Irma und Nele, die kurz vor ihrem Abitur steht. Nele wird in wenigen Tagen eine Geschichtsklausur schreiben. Beide kommen ins Gespräch. Normalerweise gilt die folgende Regel, sarkastisch formuliert. „...Nach der Klausur ist vor der Klausur, und mühsam gepaukte Fakten stehen direkt nach Abgabe im kognitiven Räumungsverkauf...“ Das aber gilt in diesem Fall nicht für Nele. Sie hinterfragt bei ihren Eltern die Vergangenheit der Großeltern. Doch sie erntet Schweigen. Als sie keine Ruhe gibt, drücken ihr die Eltern ein Fotoalbum in die Hand. Sie ahnen nicht, wie genau sich die junge Frau die Bilder anschuat. Das Haus erinnert sich an die dunkle Zeit der Geschichte. Damals wuchs Irma hier auf. Ein Buch bestimmte, wie Kinder zu erziehen waren. „...Lasst sie schreien, hieß es, das stärkt die Lunge. Trösten verdirbt den Charakter, sagt eine zur anderen. Bloß keinen Körperkontakt zum Kind, das verweichlicht...“ Die Handlung wirkt wie ein Sog, der einen nicht mehr loslässt. Nichts ist vergessen, jedoch vieles verdrängt. Manche Frage bleibt offen, aber das ist normal. Wer das Haus verlassen hat, ist nicht mehr greifbar. Nur wenige kehren nach Jahren zurück so wie Irma. Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Hier wird Geschichte auf völlig neue Art erzählt. Das Buch bekommt von mir eine Leseempfehlung.

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