
schnaeppchenjaegerin
Die 16-jährige Julie Novak verschwand am 7. September 2003 spurlos aus ihrem Elternhaus in Berlin-Grunewald. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums möchte ein True Crime-Podcast über den Cold Case berichten und zu diesem Zweck auch Julies Vater interviewen. Dieser war ein bekannter Herzchirurg an der Charité und ist inzwischen an Demenz erkrankt. Trotz seiner Erkrankung hat er Julie nie vergessen und die Hoffnung nicht aufgegeben, sie wieder zu sehen. Seine jüngere Tochter Sophia, die sich um ihn kümmert, möchte die alten Wunden nicht wieder aufreißen und ist gegen das Interview und eine erneute Medienberichterstattung. Als mutmaßlicher Täter stand damals Julies Ex-Freund Daniel, der einige Jahre älter als seine Freundin war, im Fokus der Ermittlungsbehörden, bis davon ausgegangen wurde, dass Julie freiwillig gegangen ist. Auch Julies Vater hielt Daniel für verdächtig. Er arbeitet als Altenpfleger, hat den Makel eines möglichen Mörders oder Entführers jedoch nie ablegen können. Liv und Phil, die für den Podcast verantwortlich sind, hoffen, dass sie mit ihrer Sendung dem Fall einen neuen Impuls geben und vielleicht sogar zur Aufklärung des Falles beitragen können. Bei ihren Recherchen stoßen sie auf Ungereimtheiten, als sie widerrechtlich das inzwischen unbewohnte Haus der Novaks betreten. Der Roman wird aus verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen geschildert, wobei nicht alle gleich zu durchschauen sind. Besonders prägnant ist die Sicht des Vaters Theo, der zumal den Bezug zur Realität verliert und Erinnerungen mit der Gegenwart vermischt. Seine Perspektive ist von Wortfindungsstörungen und Wiederholungen geprägte und ist ein gelungener Versuch, sich in die Denkweise eines an Demenz erkrankten Menschen hineinzuversetzen. Liv, die selbst eine schwierige Kindheit hatte und Parallelen spürt, da während der Ermittlungen der Verdacht eines Missbrauchs oder Gewalt im Hause Novak aufkam, ist schon bald sehr tief in das Schicksal der Familie involviert. Ihr geht es nicht mehr nur um eine Steigerung von Hörerzahlen, sondern um Aufklärung, was mit Julie passiert ist. Dabei schließt sie bald nicht mehr aus, dass sie tatsächlich noch am Leben sein könnte. Die Geschichte ist spannend und wendungsreich und greift passend zum True Crime-Podcast einzelne Elemente wahrer Verbrechen auf. Je mehr Details durch die Recherchen der Podcasterin ans Licht kommen, desto undurchsichtiger wird das Szenario um das Verschwinden der Teenagerin. Dafür sorgen auch die andauernden Perspektivwechsel und die Unberechenbarkeit der Charaktere. Deren Gefühle sind hingegen denkbar nachvollziehbar geschildert. Verzweiflung über ein ungewisses Schicksal, Wut über falsche Verdächtigungen und übergriffige Berichterstattungen, Hunger nach Erfolg und Bestätigung, Rachegelüste und der Wunsch nach Rehabilitation prägen die Handlungen der Charaktere. Keinen von ihnen lässt die Vergangenheit los, was mitunter zu undurchdachten Aktionen führt. Die Folgen von Ungewissheit und Ungerechtigkeit sowie wozu der Mensch fähig ist, um die eigene Haut zu retten, werden eindrücklich dargestellt. Jeder Charakter ist belastet, was für eine durchgängig düstere Stimmung sorgt. Ziel des Podcasts ist Gewissheit statt einem offenen Ende und das ist auch das, was die/ den LeserIn in Atem hält. Gerade für Theo, dessen klare Momente gezählt sind, hofft man, dass er Frieden finden kann.