
Buchdoktor
Dorothy wird immer den Tag um 1900 herum bereuen, als sie ihre Stelle im schottischen Fischerdorf Skerry antrat und sich in Mrs Browns kleinem Lebensmittelladen den wortführenden Frauen des Dorfes als Miss Aitken vorstellte. Dass die Dorfbewohner:innen sie für hochnäsig hielten, „die, die hier alles durcheinander bringt“, sollte Dorothys Schicksal bis in die Gegenwart auf tragische Weise bestimmen. Als der Bootsbauer Joseph fast 20 Jahre später einen fremden kleinen Jungen im Sturm vor dem Ertrinken rettet und selbst tropfnass mit dem Kind ins Dorf kommt, wühlt das in dramatischer Weise Dorothys Vergangenheit auf, die inzwischen verwitwet ist und deren eigener 6jähriger Sohn Moses eines Nachts verschwand. Auch wenn Kapitelüberschriften sauber trennen zwischen Geschehnissen damals und heute, verschwammen aus meiner Sicht zunächst Vergangenheit und Gegenwart. Ich fragte mich, ob die Jungen sich tatsächlich ähnlich sahen und ob in einer höchst abergläubischen Gemeinschaft ein fremdes Kind auftauchen kann, um Dorothys unbearbeitetes Trauma zu lindern. Sie nimmt den Jungen auf; denn es wird erwartet, dass sie sich mit Kindern auskennt. Dabei wirkt sie jedoch wie erstarrt in der Vorstellung, dass sie wie bei ihrem eigenen Sohn als Mutter versagen wird. Bisher spricht der Junge nicht, zeigt jedoch das Verständnis eines Kindes für sein Umfeld, das am Meer aufgewachsen ist. Seine Rettung der Polizei zu melden, scheint zunächst seinen gemächlichen Gang zu gehen. Mit zwischen zahlreichen Figuren wechselndem Focus blicken wir als Leser:innen hier in ein Dorf, in dem Pfarrer, Kirche, meerbezogener Aberglaube und Tratsch den Alltag bestimmen. Die Beziehungen in Skerry wirken wie ein komplizierter Tanz aus Ausfragen, Ausweichen, Anspielungen, eisiger Höflichkeit und vorschnellen Urteilen. Vermutlich hatte Dorothy in diesem Umfeld keine Chance, auch nur zu erkennen, welches ihr Platz sein könnte, weil sie sich der Liebe ihrer Mutter selbst nicht sicher sein konnte. Aus Dialogen zwischen den Dorfbewohnern ergibt sich am Ende ein verstörendes Gesamtbild, das offene Fragen beantwortet und die Handlungsfäden virtuos verknüpft. Ein Rückblick in eine Epoche, in der man an „das kleine Volk“ glaubte, mit dem man sich besser nicht anlegte, und in der Frauen in die Pullover ihrer Männer eine individuelle Signatur strickten, um nach einem Schiffbruch ihre Leichen beanspruchen und begraben zu können.