
Buchdoktor
Mit der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet Henning Sußebach die Frage, was wir eigentlich über unsere Urgroßmütter wissen. In vielen Fällen werden das wenige Sätze sein, die uns unsere Eltern berichteten, die ihre Großeltern evtl. nicht mehr selbst gekannt haben. Anna Kalthoff tritt mit 21 Jahren in Cobbenrode eine Stelle als zweite Lehrerin an, sie hat einen männlichen „ersten“ Lehrer als Vorgesetzten. Von ihr existieren vier (im Buch abgedruckte) ausdrucksvolle Fotos aus verschiedenen Lebensphasen, die ein Fotograf angefertigt hat, ein Poesiealbum und weitere Dokumente. Das ist mehr als Zeitgenossinnen hinterlassen konnten, die flüchten mussten oder ausgebombt wurden. Anna unterscheidet von ihrer Frauen-Generation, dass sie (*1866, vierte Tochter ihrer Eltern) nach dem Tod ihres Vaters nicht als 12-Jährige aus der Schule genommen wird, um in einem fremden Haushalt als Hausmädchen zu lernen und zu arbeiten. Obwohl sie noch sieben Geschwister hat, ist ihr Besuch einer Klosterschule offenbar gesichert. Diese Daten bilden den Rahmen, den Henning Sußebach um den sozial- und wirtschafts-geschichtlichen Hintergrund ergänzt im Stil von „währenddessen geschah an anderen Orten in Deutschland und in der Welt dies und das“. Ohne über die verblüffenden Wendungen in Annas Leben zu spoilern, sei gesagt, dass sie erstaunlich von der wirtschaftlichen Entwicklung ihres Wohnortes profitierte und von klugen Entscheidungen, die von anderen Menschen zur Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert getroffen wurden. Es ist die Zeit, in der Fahrrad und Telefon entwickelt werden, die besonders die Berufstätigkeit von Frauen verändern. Es ist auch die Epoche, in der Frauen abgesprochen wurde, ohne die Beaufsichtigung durch Männer überhaupt zuverlässige Mitarbeiterinnen zu sein. Sußebach ist von dieser Sicht nicht frei, wenn er einer 21-jährigen nicht zutraut, große, altersübergreifende Klassen zu unterrichten. Die lange Liste der Danksagungen für Unterstützung bei der Recherche zeigt mir, dass man nicht zu lange damit warten soll, handschriftliche Dokumente der eigenen Vorfahren zu transkribieren. Fazit Wie Sußebach die Lücken in Anna Kalthoffs Leben episodenhaft ausfüllt, bedient sicher nicht alle Lesererwartungen an einen biografischen Text, regt jedoch an, die eigene Bewertung von Frauenbiografien im Deutschen Kaiserreich (1871-1919) zu überdenken.