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Posted on 28.6.2025

Ich lese ja wirklich vieles – aber Das Ministerium der Zeit hat meine Vorstellung von „originell“ noch mal neu kartografiert. Gelesen habe ich es, weil es im Podcast Zwei Seiten empfohlen wurde. Ich hatte Lust auf etwas, das anders ist. Und bekam ein Buch, das nicht nur anders, sondern auch herrlich seltsam, klug und emotional verwirrend ist. Die Ausgangslage: Eine junge Frau bekommt einen Job in einem geheimnisvollen Ministerium, das Zeitreisen ermöglicht. Ihre Aufgabe? Einen echten viktorianischen Polarforscher – Commander Graham Gore, historisch verbürgt und moralisch irgendwo zwischen „gentleman“ und „verzweifelt überfordert“ – ins 21. Jahrhundert einzuführen. Gore wird also ins London von heute geholt und lernt zwischen Spotify, Bussen mit WLAN und „Frauen wohnen hier auch einfach so?“ das moderne Leben kennen. Und sie – unsere Ich-Erzählerin mit kambodschanischen Wurzeln – soll ihn begleiten. Als „Brücke“. Als Mitbewohnerin. Als Mensch, der erklären soll, was hier eigentlich Sache ist. Was daraus entsteht, ist eine Zeitreise-Romanze ohne Kitsch, ein Science-Fiction-Roman ohne Raumschiffe, ein literarischer Tanz über die großen Themen: Kolonialismus, Identität, Sprache, Nähe, Gewalt, Macht, Erinnerung, Verlust. Und: Liebe. Ja, es wird auch romantisch – aber auf die leise, verdrehte, bittersüße Art. Kein großes Tamtam. Dafür Blicke, Dialoge, Momente, die lange nachhallen. Bradleys Stil ist dabei etwas ganz Eigenes: gleichzeitig intellektuell und verspielt, bildstark und lakonisch, oft mit einem trockenen Witz, der mich mitten im Satz hat auflachen lassen. Und dann wieder poetisch und traurig, wie ein Gedicht, das zu spät auf dem Anrufbeantworter ankommt. Commander Gore? Ein absoluter Szenendieb. Sein trockener Humor, seine Verlorenheit, sein Mut, sich in diese seltsame Welt hineinzutasten – all das macht ihn zu einer Figur, die man nicht vergisst. Unsere namenlose Erzählerin hingegen wirkt oft wie ein Gegenpol: kontrolliert, vorsichtig, manchmal fast zu zurückgenommen – und gerade deshalb faszinierend. Aber: Irgendwann, so im letzten Viertel, rutscht das Buch ein wenig ins narrative Chaos. Geheimnisse überschlagen sich, politische Verschwörungen tauchen auf, die Zeit springt, die Perspektiven auch, und ich hatte kurz das Gefühl, als hätte jemand im Ministerium vergessen, die Chronologie zu sichern. Es wird wirr, manchmal zu sehr. Aber irgendwie passt auch das wieder zu dieser Geschichte, die sich nie ganz greifen lässt – wie die Zeit selbst. Mein Fazit: Dieses Buch ist wie ein handgeschriebener Brief aus einer anderen Epoche, der in einem modernen Briefkasten landet und genau im richtigen Moment gelesen wird. Es ist nicht perfekt, aber es will auch gar nicht perfekt sein. Es will überraschen, berühren, zum Nachdenken bringen – und genau das tut es.

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