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SternchenBlau

Posted on 10.6.2025

Grandioses Worldbuilding, atmosphärisch dicht erzählt. Diese Welt ist definitiv eigen. Nils Westerboer hat mit „Lyneham“ eine faszinierende Welt erschaffen, die mich richtig ins Buch hineingezogen hat. Die Konstruktion der Geschichte, die auf zwei Zeitebenen mit zwei unterschiedlichen Erzählenden geschildert wird, enthüllt erst nach und nach, wie die Zusammenhänge sind, aber von Anfang an spüre ich dieses Unbehagen, dass hier längst nicht alles gut ist, selbst, als Henry und seine Familie auf diesem fremden, lebensfeindlichen Planeten in einem vermeintlich sichern Biom ankommen. Mehr als die Hälfte der Geschichte erfahren wir aus Henrys Ich-Perspektive. Der 12-jährige hat von seinem Vater längst nicht alle Hintergründe über Perm erfahren und auch nicht, warum seine Mutter Mildred erst nach ihnen die Erde verlassen hatte. Zwischen jugendlichem Trotz und Neugierde erfahren wir schließlich immer mehr. Manchmal kam mir Henry aber fast schon zu naiv für einen Pre-Teen vor. Fein beobachtet erfahren wir von der Beziehungen zu den beiden Geschwistern, älterer Bruder und kleinere Schwester, und wie die Menschen in den Biomen auf Perm nun eine Utopie aufbauen, die aber immer wieder zu haken scheint. Von Mutter Mildred gibt es Tagebuchaufzeichnungen. Die Wissenschaftlerin ist ein kluger, eigenständiger Kopf, was bei ihren Mitstreitenden der „Primarmission“ nicht wirklich gut ankommt. Westerboer verschränkt die unterschiedlichen Erzählenebenen richtig gut, besonders am Anfang, wie sich die unterschiedlichen Informationen über die Welt und die Personen ergänzen. Die Beschreibungen von Perms Welt sind faszinierend, manchmal aber so abgedreht und mit so vielen Namen behaftet, dass ich einige Tiere und Phänomene bis zum Schluss nicht wirklich als Vorstellung im Kopf hatte. Aber das kann auch an mir liegen. Trotzdem habe ich es genossen, dass Westerboer hier ganz neue Elemente beschreibt. Das hatte manchmal schon fast meditative Tendenzen. „Lyneham“ stellt viele philosophische und politische Fragen, die gerade in Zeiten, in denen Tech-Bros immer mehr Einfluss auf unsere Welt nehmen (Stichwort transhumanistische Mythologie) sehr relevant sind. Wie können wir gemeinsam zu Entscheidungen kommen? Wie beeinflusst die Technik uns? Dürfen wir gegen das Leben entscheiden, um Leben zu retten? Vieles mochte ich wirklich sehr und wäre eigentlich bei 5 Sternen gelandet. Manchmal ging mir die Erzählungweise aber schon fast zu langsam. Mildreds Ablehnung der klassischen Mutterrolle scheint mir die im Gegenzug überzubetonen. Das Ende lief dann irgendwie zu rund, zu gebaut, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das wirklich so klappen würde. Eine moralisch richtige Entscheidung war dann mir nicht stimmig, weil sie vorher mit bestimmten Klischees spielte, um hier die Richtigkeit der Entscheidung zu verstärken. Und dann verstehe ich eine andere Entscheidung der Protagonist*innen emotional nicht. Grandioses Worldbuilding. Atmosphärisch dicht erzählt. Aber einiges war dann doch nicht ganz stimmig. 4 von 5 Sternen und eine Empfehlung für alle, die mal eine ganz andere SciFi-Welt erleben wollen.

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