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Der Anfang: «Wir alle haben im Dachgeschoss der Seele ein Geheimnis unter Verschluss. Das hier ist das meine.» Óscar Drai erinnert sich an die Zeit zurück, als er dem Mädchen Marina zum ersten Mal begegnete und wie er sich in sie verliebte. Was er von ihr noch besitzt, ist ein zum Teil geschriebenes Buch. «Marina sagte einmal zu mir, wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei. Es sollte eine Ewigkeit dauern, bis ich diese Worte begriff. Doch ich fange besser am Anfang an, und der ist in diesem Fall das Ende.» Er sieht es als eine Aufgabe, die begonnene Geschichte zu beenden: In seinen freien Stunden streift der 15-jährige Internatsschüler Óscar im Barcelona der späten 70er Jahre durch die verwunschenen Villenviertel, trifft eines Tages auf Marina, die sein Leben für immer verändern wird. Als die beiden Jugendlichen auf einem Friedhof einer mysteriösen schwarz gekleideten Frau, die schwarze Schmetterlinge umgibt, in ein Gewächshaus folgen, haben sie ein Horrorerlebnis mit scheinbar Untoten, kommen gerade noch mit dem Leben davon. Phantastik im Stil von viktorianischen Schauerromanen wie Edgar Allan Poe oder Mary Shelley, mitten im Herz von Barcelona. «Ende der siebziger Jahre war Barcelona eine Fata Morgana von Boulevards und engen Gässchen, wo man allein beim Betreten eines Hausflurs oder eines Cafés dreißig oder vierzig Jahre in die Vergangenheit zurückreisen konnte.» Marina lebt mit ihrem Vater Germán einsam in einer abgehalfterten Villa ohne Strom; das Mädchen geht nicht zur Schule, wird von ihrem Vater unterrichtet. Für Oscar, der im Internat wohnt, dessen Eltern nie zu Hause sind, auch in diesen Ferien nicht, wird diese Villa in den Weihnachtsferien ein Zuhause mit einer Familie – etwas, das er sich sehnlichst wünscht. Denn alle Kinder fahren heim, nur die 30-jährige Witwe Dona Paula, die sich um den Haushalt des Internats kümmert, bleibt mit Óscar zurück. Óscar und Marina streifen durch den Friedhof, sind fasziniert von dem Horror-Gewächshaus, aus dem sie ein altes Fotoalbum mitgenommen hatten, forschen nun neugierig dem düsteren Geheimnis der Personen nach, die darin zu finden sind. So kommen sie dem dunklen Treiben des ehemals reichsten Mannes Barcelonas auf die Spur. Bald befinden sie sich mitten in seinem Albtraum aus Trauer, Wut und Größenwahn, der alles Glück zu zerstören droht. Ein spannender Gothic-Roman, der den Leser von der ersten Seite an gefangen nimmt. Óscar fungiert als Ich-Erzähler, der sich in Marina verliebt, die selbst ein Geheimnis umgibt. Die Jugendlichen rollen die Vergangenheit von mehreren Personen auf, die ein okkultes Mysterium umhüllt, womit sie sich in Lebensgefahr begeben. Sie treffen auf Inspektor Florián, der schon lange an diesem mysteriösen Fall arbeitet. «Ein Band des Schweigens und der Blicke einte sie in den Schatten dieses Hauses, am Ende einer vergessenen Straße, wo sie, weitab von der Welt, einer für den anderen sorgten.» Das Thema ist das Streben nach dem ewigen Leben, die Ethik, um Versuche von Menschen, selbst Gott zu spielen. Die phantastischen Elemente, die an Frankenstein erinnern, mystische und dunkle Gassen, der Friedhof, eine geheimnisvolle Ruine, schummrige Hauseingänge, verwilderte Gärten, ein gruseliges Kanalsystem, ein geheimes Labor, schwarze Todesschmetterlinge, übernatürliche Elixiere, eine mysteriöse schwarze Frau, dichte düstere Atmosphäre, im Gothicstil, jagen dem Lesenden einen Schauer über den Rücken; eine zarte Liebesgeschichte arbeitet Romantik hinein. Marina ist eins der ersten Werke von Carlos Ruiz Zafons, bereits ein fulminantes Meisterwerk, melancholisch, anrührend und knisternd vor Spannung, mit metaphernreichen Beschreibungen. Es ist ein Jugendroman – ein hartgesottener. Phantastik, Mystery, Schauer- und Horrorroman, Detektivgeschichte; gespickt mit Verweisen auf die Schwarze Romantik, denn manches erinnert an E.T.A. Hoffmanns scheppernde Olimpia; die Tochter des geheimnisvollen Arztes heißt Maria Shelley; auch Frankenstein lässt grüßen, wie auch das Gran Teatro Real. Der Roman von 1999 ist selbst ein Klassiker – einer vom Feinsten, und garantiert nicht nur ein Jugendbuch! Als Jugendbuch würde ich es ab 14, eher 16 Jahren empfehlen. Carlos Ruiz Zafon, 1964 in Barcelona geboren, † 19. Juni 2020 in Los Angeles war ein spanischer Schriftsteller. Er arbeitete als Drehbuchautor in Los Angeles und schrieb für die spanischen Tageszeitungen El Pais und La Vanguardia. Carlos Ruiz Zafón begeistert mit seinen Barcelona-Romanen um den Friedhof der Vergessenen Bücher ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt. »Der Schatten des Windes«, »Das Spiel des Engels«, »Der Gefangene des Himmels« und »Das Labyrinth der Lichter« waren allesamt internationale Bestseller. Auch »Marina«, der Roman, den er kurz vor den großen Barcelona-Romanen schuf, stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Seine ersten Erfolge feierte Carlos Ruiz Zafón mit den drei phantastischen Schauerromanen »Der Fürst des Nebels«, »Mitternachtspalast« und »Der dunkle Wächter«. die Nebel-Trilogie,wurde in Spanien mit dem Jugendliteraturpreis Premio Edebé ausgezeichnet.