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gwyn

Posted on 5.6.2025

«Wo aber die an den Augenschein streng gebundene Forschung endet, beginnt die freie und beschwingte Kunst der Seelenschau; wo die Paläographie versagt, muss die Psychologie sich bewähren, deren logisch eroberte Wahrscheinlichkeiten oft wahrer sind als die nackte Wahrheit der Akten und Fakten. Hätten wir nichts als Dokumente der Geschichte, wie eng, wie arm, wie lückenhaft wäre sie! Das Eindeutige, das Offenbare, ist die Domäne der Wissenschaft, das Vieldeutige, das erst zu Deutende und zu Klärende, die zugeborene Zone der Seelenkunst; wo das Material nicht ausreicht für papiernen Beweis, bleiben noch unermessliche Möglichkeiten für den Psychologen. Das Gefühl weiß von einem Menschen immer mehr als alle Dokumente.» Marie Antoinette (1755–1793) wäre wohl ihr Lebtag eine ganz durchschnittliche Adlige am Hof von Versailles geblieben, so Stefan Zweig: «Sie hätte getanzt, geplaudert, geliebt, gelacht, sich aufgeputzt, Besuche gemacht und Almosen gegeben» – wäre ihr nicht die Weltgeschichte in die Quere gekommen. Denn in der Französischen Revolution wurde die Ehefrau König Ludwigs XVI. den Bürgern zum Hassobjekt schlechthin. Die Biografie der Marie Antoinette von Stefan Zweig ist stilistisch ein Leckerbissen, doch man muss sich durchbeißen, weil sie streng sachlich geschrieben ist, einem Sachbuch ähnlich. Was es für mich so anstrengend gemacht hat, ist die Springerei. Gut, jeder weiß, dass Marie auf dem Schafott endete. Doch die Geschichte springt von der Kindheit zur Guillotine hin und her, querbeet durch ihr Leben, das gesamte Buch hindurch. Um das französisch-österreichische Bündnis von 1756 (Vertrag von Versailles) zu festigen, plante Maria Theresia, ihre Tochter Maria Antonia mit dem französischen Dauphin zu vermählen. Die Kaisertochter wird als Kind an die Bourbonen verschachert. Am 19. April 1770 wurde die Erzherzogin per procurationem mit dem Dauphin Louis-Auguste verheiratet, die eigentliche Hochzeit fand vier Wochen später in Versailles statt. Ein fünfzehnjähriges Kind muss ein anderes fünfzehnjähriges Kind heiraten, ins ferne Land ziehen, ohne Begleitung, nicht einmal ein paar Diener oder Hofdamen dürfen sie begleiten. Sie spricht kein Französisch. Dauphine mit 15 – Königin von Frankreich mit 19, nicht wissend vom Wandel der Welt, abgeschirmt in einer Parallelwelt, lebend im Kokon von Versailles, als Königin des Rokoko. 1774 wurde ihr Mann zu Ludwig XVI gekrönt, sie zur Königin. Mit vollen Händen wirft sie das Geld für jede Art von Luxus aus dem Fenster, während das französische Volk hungert zur gleichen Zeit. Aber plötzlich dreht sich der Wind und die Revolution bläst dem französischen Hof mächtig ins Gesicht. König Ludwig XVI. wird guillotiniert und Marie Antoinette in Gefangenschaft gesetzt, versucht zu fliehen, was misslingt. Nur knapp 10 Monate später folgt sie ihm auf das Schafott nach einer Anklage wegen Hochverrats. Meisterhaft leuchtet Stefan Zweig die psychologischen Hintergründe der Protagonist:innen aus und führt uns so zu einem tieferen Verständnis von Menschen und Zeit. Bereits als Kind zeigte sich Marie unkonzentriert, oberflächlich, hatte am Lernen kein Interesse. Das wird sich auch später nicht ändern und ihr im Wege stehen. Sie war eine gute Unterhalterin, interessierte sich für Vergnügen, Politisches ging an ihr vorbei: der Unabhängigkeitskrieg der USA, wie auch die Teilung Polens. Den Aufstieg Preußens, hatte sie ihn wahrgenommen? Und den von Katharina der Großen? Ihr Charakter war für den einer Herrscherin nicht geschaffen – insofern war ihr Ehemann ihr ebenbürtig. Stefan Zweig berichtet über das Alltagsleben, die historischen Bücher der Buchhaltung geben viel preis. Es wird über die strengen Regeln am Hofe gesprochen, auch über die Dubarry, die Maitresse des Schwiegervaters, des Königs. Denn die beherrsche den Hof, hatte sogar den König im Griff. Allerdings musste auch sie sich an die Regeln halten. Marie wuchs auf dem noch strenger geregelten Hof in Wien auf, in dem Etikette und Moral zuvorderst stand. Eine Maitresse, völlig ausgeschlossen. Eine Maitresse, die etwas zu sagen hat? Undenkbar. Marie war schockiert über das, was sie hier sah, stand in gutem Briefkontakt mit der Mutter – auch hier musste man aufpassen, was man schrieb, falls der Brief abgefangen wurde, konnte der Inhalt gegen einen verwandt werden. Ignorieren riet die Mutter. Die Regel: Niemand darf eine höher gestellte Person ansprechen – erst wenn man selbst angesprochen wurde, war die Konversation freigegeben. Marie ignorierte die Dubarry über Monate hinweg – was diese wurmte, sich beim König beschwerte, dessen Geld sie mit vollen Händen ausgab. Und Marie neidete der Dubarry ihren Prunk, strengte sich an, noch besser zu sein. Das waren die Dinge, die die junge Marie Antoinette bewegten neben Mode, Schmuck, Musik. Ihr Mann wollte nicht das Bett mit ihr teilen, zunächst zu jung, später (vielleicht unter dem Druck) desinteressiert. Man erwartete von der Königin, Kinder zu gebären. Irgendwann musste der König ran. Erst 1778 kam das erste von vier Kindern des Paares zur Welt. Die Älteste, Marie Thérèse Charlotte, die spätere Herzogin von Angoulême, soll als einziges Familienmitglied die Französische Revolution überleben. «In der Französischen Revolution – wie in jeder – zeichnen sich deutlich zwei Typen von Revolutionären ab: die Revolutionäre aus Idealität und die aus Ressentiment; die einen, die es besser hatten als die Masse, wollen diese zu sich emporheben, ihre Bildung, ihre Kultur, ihre Freiheit, die Lebensformen steigern. Die andern, die es selber lange schlecht gehabt, wollen Rache nehmen an denen, die es besser hatten, sie suchen ihre neue Macht auszutoben an den vormals Mächtigen. Diese Einstellung, weil in der Zwiefalt der menschlichen Natur begründet, gilt für alle Zeiten.» Trotz aller Schwierigkeiten hielt Marie mit ihrem Mann ein freundschaftliches Verhältnis, zwei Kinder, die sich erst als erwachsene nähern. Mit ihrer Mutterschaft erreichte Marie endlich eine gewisse Reife und Ernsthaftigkeit. Begriff nun, dass das Volk sie hasste. Das Volk nannte sie «Madame Deficit» und der Hass auf die Königin wurde durch royale Gegner mit einer Flut von Schmähschriften und Flugblättern voller Verleumdungen gegen den frivolen Lebensstil der extravaganten Gesellschaft des Petit Trianon geschürt. Das würde man heute als gezielte Fakenews-Kampagne bezeichnen. Doch Marie Antoinette ignorierte den wachsenden Hass und realisierte die Tragweite der gegen sie agierenden Polemik nicht. Als 1785 die sogenannte Halsbandaffäre publik wurde, es ging dabei um ein überaus kostbares Diamantencollier, das unter dem Namen der Königin ohne deren Wissen gekauft wurde und verschwand, wurde sie angeklagt. Obwohl die Unschuld der Königin erwiesen werden konnte, hing ihr der Verdacht der Beteiligung bis zum Tod nach. Die Königin wachte endlich auf, befasste sich mit dem Zustand des Landes, König Ludwig XVI. war heillos überfordert. Jetzt nahm Marie Antoinette an den Sitzungen des Königlichen Rates teil und gab sich wie von ihrer Mutter Maria Theresias gelernt, als Landesmutter aus, die es richten wird. Sie hatte sich nie mit Politik beschäftigt, ihr fehlte auch jeglicher Instinkt; sie brüskierte die falschen Menschen, machte alles falsch. Die Vertreter der verschiedenen Teile des Königreiches traten zu einer Art Parlament zusammen, forderten eine Verfassung, die die absolute Königsmacht beschneiden sollte. Letztendlich verschlimmerte Marie jetzt ihre Lage. Sie übernahm das Ruder, weil der König zauderte, drängte auf eine militärische Lösung: Königstreue Truppen sollten in einem Staatsstreich die Ständeversammlung auflösen. Man warf ihr vor, sündhaft mit vielen Liebhabern die Zeit zu vertrödeln, Staatsgelder hinauszuschmeißen für Luxus. Mit ihrer Forderung an das Militär hatte sie nun das Volk gänzlich gegen sich aufgebracht. Ich wird ein Zitat angehängt, «Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!» – was falsch ist; allerdings hätte es von ihr stammen können. Die Jakobiner verstärkten ihre Bemühungen, das Volk gegen den König aufzuwiegeln, dekreditierten die Königin mit Pamphleten. Marie Antoinette hatte diskret lediglich einen Liebhaber, von dem man öffentlich nichts wusste, der schwedischen Adelige Axel von Fersen. Bis heute ist diese innige Beziehung nicht genau geklärt – wahrscheinlich hatte sie als Erwachsene endlich ihre große Liebe gefunden. Axel von Fersen hat nach dem Tod von Marie alle Unterlagen vernichtet, die darauf hindeuten könnten. Stefan Zweig leuchtet das Leben der Kindsfrau, der Erwachsenen, der Mutter und Lebensfrau genau aus, ebenso ihren Mann. Ein Leben, in das sie hineingepresst werden, das sie nicht haben wollen, für das sie nicht geschaffen sind. Sie, von mittelmäßiger Intelligenz, zumindest besaß sie Stärke – er, ein schwacher Mensch, von maximal mittelmäßiger Intelligenz. Warum sie wurden, wie sie waren, versucht Stefan Zweig aufzublättern. Man hat Mitleid mit den beiden. Sie waren Opfer der Propaganda, selbst der stets eifersüchtige Bruder Maries hat aus Österreich gegen sie gearbeitet, mit anderen gegen Frankreich paktiert. Doch trotz aller Gegebenheiten lässt mein Mitleid mit dem erwachsenen Paar nach, das in völliger Verantwortungslosigkeit agiert hat. Stefan Zweig hat das Leben Maries bis in den letzten Winkel genau ausgeleuchtet, historisch genau, stilistisch einwandfrei. Letztendlich hat mir der Roman nur aus Interesse Spaß gemacht. Es ist eine trockene Biografie, die wie ein Floh in den Zeiten hin und her springt. Das macht das Trockene noch mühsamer. Harte Kost. Stefan Zweig (1881–1942) wuchs als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wien auf. Er schrieb Gedichte, Novellen, Dramen und Essays, die 1933 der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Seit 1938 auf der Flucht, lebte der engagierte Pazifist und Humanist zuletzt in Brasilien, wo er zusammen mit seiner Ehefrau Selbstmord beging.

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