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gwyn

Posted on 5.6.2025

«Ich bin geboren im Land der Camorra, wo mehr Menschen ermordet werden als irgendwo sonst in Europa, wo Geschäftemacherei und brutale Gewalt unauflöslich miteinander verbunden sind und nur das einen Wert besitzt, was Macht verspricht.» Guiliano Turone, ehemaliger Richter am Kassationsgerichtshof, Mailänder Professor für Investigationstechniken und Mitglied der Antimafia-Kommission hat hier historisch genau und analytisch die Verflechtungen von Verbrechen, Politik und Wirtschaft in Italien aufgeblättert. Im Mittelpunkt stehen die Entführung durch die Roten Brigaden von Premier Aldo Moro, ermordet 1978, das Bomben-Attentat von Neo-Faschisten im Bahnhof Bologna 1980, mit 80 Tote, mit dem Vorspiel der Ermordung von Richter Amato, Morde an Journalisten wie Carmine Pecorelli, die Morde an den internationalen Finanzmanagern Calvi (1982) und Sindona (1986), aber auch fast vergessene Verbrechen wie der Mord am Bruder des italienischen Staatspräsidenten Mattarella (1980), Mafiakriege und politische Morde in Palermo. Er zeigt die Zusammenhänge mit der Mafia, Verbindungen zu korrupten Politikern und Finanziers sowie der Geheim-Loge P2, die das Herz dieser Korruption ist, der auch Silvio Berlusconi zugehörte, wie auch Giulio Andreotti. Alles beginnt, so der Autor, nach dem 2. Weltkrieg, als die CIA Verbindungen zu faschistischen Gruppen hielt und lokale Mafia-Größen als Bürgermeister in Süditalien einsetzte. Damit wollte man sich gegen die stark anwachsende italienische kommunistische Partei «Partito Comunista Italiano» (PCI) positionieren. Ähnlich wie im Nachkriegsdeutschland, wo Amerikaner ehemalige Nazis einsetzten, großzügig falsche Pässe verteilten, um ehemals hochrangigen NSDAP-Leuten wichtige Posten in der BRD zu geben. So wurde Reinhard Gehlen, unter Hitler Chef der Abteilung Fremde Heere Ost, Chef des BND, seine Kumpel Heinz Herre, Gerhard Wessel und Hermann Baun wurden auch eingestellt, wie viele ehemalige Nazis unter falschem Namen, was noch lange nachhallte. So hat die Einmischung Amerikas in die italienische und deutsche Politik ihre Einflüsse hinterlassen: Die ewige Angst der Amerikaner vor Kommunisten. Man traute Kriminellen und Faschisten wesentlich mehr als Sozialisten. In Italien hat das zu einer lang anhaltenden Vermischung von Staatsgewalt und krimineller Gruppen geführt, hat den verschiedenen mafiösen Gruppen viel Macht in die Hand gelegt. Die Geheimloge P2, die Propaganda Due, die sich nach außen harmlos als Loge der Freimaurer tarnte, hatte das Ziel, durch Attentate, Entführungen und extremem Chaos für Instabilität in Italien zu sorgen und in der Folge einen faschistoiden Staat im Staat aufzubauen. So meint der Autor, Höchste politische Kreise aus der P2 in Italien hätten damals bewusst nichts unternommen, um Aldo Moro aus der Geiselhaft der Roten Brigaden zu befreien – denn Moro stand der Democrazia Cristiana im Weg. «Der ungeheuerlichste Satz von allen: Jemand ist ‚im richtigen Moment‘ gestorben.» Am 11. Juli 1979 wurde Giorgio Ambrosoli, Liquidator der bankrotten Banca Privata Finanziaria von einem amerikanischen Killer ermordet. Auftraggeber war der später im Gefängnis ermordete mafiose Bankier Michele Sindona. Als seine Bank vor dem Konkurs stand, täuschte er seine eigene Entführung vor, um mit dem Lösegeld die drohende Pleite zu verhindern. Er hoffte, der Staat werde bezahlen. Gleichzeitig gab er die Ermordung des Konkursverwalters seiner Banken in Auftrag. Auf den Spuren des Geldes führte die Spur die in den Vatikan, in die Politik, in die internationale Finanzwelt und zur Mafia, und die Ermittler entdeckten so die Loge P2, das Zentrum dieses konspirativen Netzwerks. Ihm gehörten Spitzenvertreter der Politik, der Wirtschaft, der Medien, des Militärs, der Geheimdienste, der Polizei und der Mafia an. Ein Staat im Staat, ein Staat im Untergrund. Giuliano Turone beschreibt anhand der offiziellen Prozessakten und Untersuchungsberichte dieses weitverzweigte System illegaler Macht, an dessen Aufdeckung er maßgeblich beteiligt war. Berlusconi, Mitgliedsnummer 1816. «Drei Minister, der Generalstabschef der italienischen Streitkräfte, die Chefs der Geheimdienste, der Generalsekretär des Außenministeriums, 24 Generäle und Admirale der drei Teilstreitkräfte, neun Generäle der Carabinieri, fünf Generäle der Finanzpolizei einschließlich des Generalkommandanten, hundert ranghohe Offiziere, zwei Polizeichefs, fünf Präfekten, eine Reihe von Diplomaten, 63 hohe Ministerialbeamte, der Generalsekretär der Sozialistisch-Demokratischen Partei Italiens PSDI, der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten im Abgeordnetenhaus, Parlamentarier, Privatsekretäre von Regierungschefs, Unternehmer, Verleger, Journalisten, der Direktor des Corriere della Sera, der Direktor der Nachrichtensendung TG1, Universitätsprofessoren, Führungskräfte öffentlicher Unternehmen, Banker und 18 Richter und Staatsanwälte.» Meister vom Stuhl dieser Loge war Licio Gelli, ein italienischer Unternehmer, Faschist und Verschwörer. Gelli war am Zusammenbruch der Vatikanbank Banco Ambrosiano beteiligt, wurde beschuldigt, an mehreren Terroraktionen beteiligt gewesen zu sein, auch am Bombenanschlag vom Bahnhof Bologna, sowie an der Entführung und Ermordung des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Diese Gruppe, von der Berlusconi behauptete, es wären ein paar Rentner, die sich hin und wieder treffen, planten einen Staatsstreich. Auch König Vittorio Emanuele IV. gehörte dazu. Er beutete Prostituierte aus, man warf ihm schmutzige Spielbankgeschäfte und Geldwäscherei vor, und er war Mitglied der rechtsextremen P2, wurde demütigend öffentlich verhaftet und in den Knast gesteckt. Giuliano Turone, ein Richter und Staatsanwalt, der zum Historiker wird, historisch zur Staatsgeschichte, zur Kriminalität und Politik in Italien. Er beschreibt analytisch ein Parallelsystem politischer und wirtschaftlicher Macht, in dem sich neofaschistische Organisationen, Mafia und rote Terrorgruppen tummeln. Aber auch gewöhnliche Kriminelle, Hochstapler und Geldwäscher sind mit im Spiel. Ein Buch, bei dem man immer wieder pausieren muss, voller Information, Personen, Ereignissen und Verstrickungen. Fazit: Italien ist ein Land, das von Gangstern regiert wurde … vielleicht wird. Giuliano Turone ist ermittelder Staatsanwalt / Richter gewesen, und das merkt man seinem sachlich-distanzierten Schreibstil an, so wie es sein muss. Er klagt aber nicht nur an, sondern hebt hervor, dass es auch ein anderes Italien gibt. Aufrechte Menschen, Mafiajäger, Korruptionsjäger. Und die mächtigen von ihnen leben mit der Angst vor einem Anschlag auf ihre Person, beschützt von Leibwächtern, wie auch kritische Journalisten und Autoren. Und trotzdem hat es manchem das Leben gekostet. Ein eindrucksvolles Sachbuch! «Ich würde sagen, dass es außerhalb Italiens Leute gibt, die das, was die Loge P2 in Italien gemacht hat, zu kopieren versuchen. Und deswegen halte ich es für richtig, wenn man sich auch außerhalb von Italien mit dem beschäftigt, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hier passiert ist.» Giuliano Turone, geb. 1940 bei Genua, em. Richter des Mailänder Kassationsgerichtshofs, em. Professor für Investigationstechniken an der Katholischen Universität Mailand. Von 1970 bis 1987 war er Untersuchungsrichter in Mailand und leitete u. a. die Ermittlungen gegen die Loge P2. In den 1990er-Jahren gehörte er zum ersten Team von Richtern der Nationalen Antimafia-Staatsanwaltschaft. Er war an der Ausarbeitung des Straßburger Übereinkommens von 1990 über Geldwäsche beteiligt und war Staatsanwalt beim Haager Tribunal für das ehemalige Jugoslawien. Seit 1983 veröffentlicht Turone zu Rechtsfragen und Ermittlungsstrategien, zur Mafia und ihren Komplizen.

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