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mabuerele

Posted on 14.5.2025

„...Wie erklärte man Heimweh? Wie den Wunsch, dorthin zurückzukehren, wo man eben nicht nur schlimme Dinge erlebt, sondern auch glückliche Erfahrungen gemacht hat?...“ Diese Gedanken gehen Stella durch den Kopf, als sie sich in London von Tom verabschiedet. Sie kehrt nach Wien zurück in die Stadt ihrer Jugend. Die Autorin hat einen bewegenden Roman geschrieben. Er spielt im Wien im Jahre 1946. Der Schriftstil bringt die Lage in der Stadt mit all ihren Facetten gekonnt auf den Punkt. Stella wird von ihrer Freundin Feli in Empfang genommen. Sie wird auch bei ihr wohnen. Zwar hat sie einen Antrag auf Restitution ihrer ehemalige Wohnung gestellt, doch der wurde abgelehnt. Einst war ihr ganzer Besitz arisiert worden. Feli und deren Eltern hat sie es zu verdanken, dass sie 1938 als Jüdin noch nach Großbritannien fliehen konnte. Kurze Zeit später waren dafür die Grenzen dicht. Ihre Eltern und ihre jüngere Schwester wollte sie nachholen, doch sie haben es nicht mehr geschafft. Stella bekommt eine Anstellung am Lindengymnasium. Der Direktor ist ihr wohlgesonnen und freut sich über die neue Kollegin. Aber es gibt auch andere Stimmen. Stella sieht ihren Beruf als Berufung. Sie macht sich Gedanken um die Kinder. „...Jeder einzelne Schüler brachte seine eigene Lebensgeschichte mit ins Klassenzimmer. Wenn ein Schüler dem Unterricht nicht folgen konnte, hieß es nicht automatisch, dass sie nicht klug genug waren...“ Deutlich wird, wie sehr der alte Geist noch regiert. Das Lehrerkollegium ist sehr durchwachsen. Einige stehen für Zucht und Ordnung um jeden Preis. Außerdem haben sie sich ein Elitedenken bewahrt. Das spiegeln ebenfalls die Antworten manche Schüler wieder. „...Wer so lange im Krankenhaus liegt, ist ein Schwächling. Und die haben im Lindengymnasium nichts verloren. Hier werden nur die Klügsten des Landes unterrichtet...2 Stella ist schockiert. Sie erkennt das Potential jedes Schülers, egal, aus welchen Milieu er kommt. Leni, das klügste Mädchen der Klasse, soll auf Wunsch des Vaters die Schule verlassen und eine Lehre machen. Deimel, der stellvertretende Direktor, sieht das genauso. „...Viel mehr Eltern sollten ihre Töchter auf eine Zukunft als Mutter und Ehefrau vorbereiten. Schließlich ist das die Rolle, die sie alle irgendwann einnehmen werden...“ Im Buch wird auch herausgearbeitet, dass Wien in den 20er Jahren ein Zentrum der Reformpädagogik war. Selbst die Studienmöglichkeiten für Mädchen waren besser als in vielen anderen Ländern Europas. Doch die Nationalsozialisten haben all das zerstört. Stella hat nicht erwartet, in der Öffentlichkeit noch als Jüdin angeprangert zu werden. Gut, dass ihr Feli stets zur Seite steht. Eine der entscheidende Stellen im Buch ist das Gespräch zwischen Leopold und Stella. Der junge Mann arbeitet als Handwerker im Gymnasium und hat ein Auge auf Stella geworfen. Bei einem Ausflug unterhalten sie sich über die Aufräumarbeiten. Dabei geht es auch um die in den Köpfen. „...Auch sie wünschte sich Versöhnung. Aber eine innere Stimme sagt ihr, dass nur sie als Opfer das Recht hatte, milde und verzeihend auf die Täter zuzugehen. Es war an den Opfern, die Vorgehensweise zu bestimmen, und nicht umgekehrt...“ Das Nachwort erweist darauf, dass sich die Handlung an einer realen Lebensgeschichte orientiert, aber trotzdem fiktiv ist. Das Buch hat mich tief berührt. Es bekommt von mir eine Leseempfehlung!

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