
auserlesenes
Sommer 1987 in der Stadt Swift River im Neuengland-Staat Massachusetts im Osten der Vereinigten Staaten: Diamond Newberry erfährt Ausgrenzung und Mobbing. Die 16-Jährige ist übergewichtig und die einzige Schwarze in der Gemeinde. Ihr Vater Robert ist seit sieben Jahren verschwunden. Ihre Mutter Annabelle, eine ehemalige Tanzlehrerin, hangelt sich von Job zu Job. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Das alte Haus der Familie steht zum Verkauf, weil die Raten nicht mehr zuverlässig bezahlt werden können. Diamond beschäftigt der Verbleib ihres Vaters sehr. Sollen sie ihn für tot erklären lassen? Zugleich träumt die Jugendliche von einer besseren Zukunft. Da trudelt plötzlich ein unerwarteter Brief ein… „Swift River“ ist ein Roman von Essie Chambers, übersetzt von Simone Jakob. Der Roman ist sinnvoll strukturiert: An den Prolog schließen sich 25 Kapitel an. Erzählt wird vorwiegend in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Diamond. Dabei gibt es zwei Erzählebenen: die Zeit kurz vor Roberts Verschwinden im Jahr 1980 und die Ereignisse im Jahr 1987. Eingefügt sind außerdem Briefe aus der Perspektive zweier weiterer Personen, die bis 1915 zurückreichen. Die Handlung umspannt somit mehrere Jahrzehnte. Der Schreibstil ist ungekünstelt, aber eindrücklich, anschaulich und teilweise sogar poetisch. Das Vokabular ist bisweilen salopp bis vulgär. Die Sprache wirkt jedoch authentisch. Diamond steht im Zentrum der Geschichte. Eine reizvolle, unkonventionelle Protagonistin, mit der ich sehr mitgefühlt habe. Ihr Innenleben ist nachvollziehbar, ihr Handeln schlüssig. Ihr Charakter ist ebenso gut psychologisch ausgearbeitet wie die ihrer Eltern. Auch die übrigen Familienmitglieder und Nebenfiguren haben mich in ihrer Darstellung überzeugt. Nur vordergründig geht es um das mysteriöse, für Diamond überraschende Verschwinden ihres Vaters. Vielmehr ist der Roman eine Mischung aus Coming of Age, Milieustudie und geschichtlicher Aufarbeitung. Die Protagonistin muss mehrfache Diskriminierung ertragen: als Schwarze, als adipöse Person und als junge Frau in einem sexistischen Umfeld. Vor allem der Rassismus der weißen US-Bevölkerung gegenüber Schwarzen wird thematisiert. Besonders erschreckend finde ich, dass die Geschichte auf wahren Begebenheiten basiert. Interessant sind die längeren Anmerkungen der Autorin, die über ihre Recherchearbeit berichtet. Zudem erklärt sie darüber auf, dass es sogenannte Sundown Towns wirklich gab, also Städte wie das fiktive Swift River, aus denen Schwarze in der Vergangenheit systematisch komplett vertrieben wurden. Auf den rund 340 Seiten ist die Geschichte fesselnd und berührend. Sie hält unerwartete Wendungen und Entwicklungen bereit, bleibt dennoch jederzeit in sich stimmig und lässt keine wichtigen Fragen offen. Das stimmungsvolle Cover passt zum Inhalt des Romans. Der Titel ist 1:1 aus dem amerikanischen Original übernommen. Mein Fazit: Mit „Swift River“ ist Essie Chambers ein aufrüttelndes und unterhaltsames Debüt gelungen, das den Finger gleich in mehrere Wunden legt. Ein absolut empfehlenswerter Roman, nicht nur für jüngere Leserinnen und Leser.