
gwyn
«Vorher, als Julio und seine Familie noch da waren (und davor, als Tomás noch nicht gestorben war und hartnäckig ganz allein das alte Haus und die Erinnerung an Gavín erhielt), versammelten wir uns alle in einem der Häuser am Kamin und verbrachten dort, während Schnee und Wind auf dem Dach winselten, die langen Winternächte damit, uns Geschichten zu erzählen und uns an Personen und Ereignisse aus einer Zeit zu erinnern, die fast immer weit zurücklag. Das Feuer einte uns damals mehr als die Freundschaft und das Blut. Die Worte dienten wie immer dazu, die Kälte und Trostlosigkeit des Winters zu verscheuchen. Jetzt dagegen wurden Sabina und ich uns durch das Feuer und die Worte noch fremder, die Erinnerungen machten uns immer schweigsamer und verschlossener. Und so war der Schnee, als er dann kam, schon seit langem in unseren Herzen.» Ein Klassiker. Der Protagonist, Andrés de Casa Sosa, ist der letzte Einwohner des verlassenen Dorfes Ainielle, das in den aragonesischen Pyrenäen liegt. Die Verbliebenen sind inzwischen verstorben, andere schon lange weiter hinunter in die Täler gezogen oder ins Ausland, auf der Suche nach Arbeit. Nur Andrés, schon sterbensalt, harrt aus. Er verteidigt sein Dorf gegen vermeintliche Eindringlinge der Natur; er ist den Menschen, die Menschen sind ihm fremd geworden. Erinnerungen an die Zeit, als sie noch ein paar wenige waren, seine Nachbarn, Sabina, seine Frau. «Ich habe jedoch Tag um Tag seinen langsam fortschreitenden Niedergang miterlebt. Ich habe Haus um Haus einstürzen gesehen und habe vergeblich versucht zu verhindern, dass dieses hier vorzeitig zu meinem eigenen Grab wird. Während all dieser Jahre habe ich ohnmächtig einem langen, grausamen Todeskampf bei-gewohnt. Während all dieser Jahre war ich der einzige Zeuge des endgültigen Zerfalls eines Dorfes, das vielleicht sogar schon tot war, bevor ich zur Welt kam. Und auch heute, an der Schwelle zu Tod und Vergessen, hallt in meinen Ohren noch das Schreien der unter dem Moos begrabenen Steine und das endlose Klagen der vermodernden Balken und Türen.» Der Sohn ging fort im Streit – wenn er geht, dann möge er niemals wieder kommen, hatte Andrés ihm als Bedingung gestellt. Sein Erinnern selbst ist vom Rost der Zeit angefressen, ist ein letztes Aufbäumen gegen den immer spürbarer werdenden tödlichen Schleier. Die Häuser um ihn herum fallen zusammen. Zuerst weichen die Balken durch die Feuchtigkeit auf, zerbrechen, und dann rutschen die Steine. Am Anfang, als sie noch mehr als eine Hand voll waren, haben sie die Gärten aller Häuser bestellt, sich selbst versorgt, mit dem, was die Erde hergegeben hat, Kühe, Hühner. Sie haben die Nachbarhäuser in Ordnung gehalten, die Straßen, die Natur, die eindringen wollte, weggeschnitten. Irgendwann waren sie nur noch zu zweit, zwei alte Männer. Sie haben es nicht mehr geschafft. «Doch in jener Nacht in der Mühle, während in der Casa Julio die letzten Vorbereitungen für die Abreise getroffen wurden und der gelbe Regen sanft auf den Fluss niederging, merkte ich plötzlich, dass mein Herz auch schon vollständig von diesem Regen durchweicht war. Dann geschah das mit Sabina. Und von diesem Tag an zwang mich die Einsamkeit dazu, ständig und unweigerlich Zeuge meines eigenen Verfalls unter der Last der bereits gelebten Jahre zu sein.» Der Zerfall des Dorfs, des Körpers, des Geistes. Julio Llamazares ist ein wundervoller Erzähler der alten Schule. Verlust, das Verdörren der einen Wurzeln, begraben ist das, was man liebte; ein inneren Monolog in der Einsamkeit. Irgendwann gehen die Nahrungsmittel aus und er stellt sich die Frage, ob Andrés eines natürlichen Todes sterben wird oder wird er von seinem eignen Haus erschlagen? Wer wird ihn finden? Wann wird man ihn finden? Der Trost ist der Hund, ist die Natur. Alles um ihn herum ist gelb. Die Steine, der Schnee, der Regen. Man fröstelt förmlich mit Andrés mit, wenn der Schnee das Dorf einschließt, die Kälte in die Gemäuer zieht. Eigentlich ein deprimierender Stoff; doch die Novelle entwickelt einen Sog, weil sie so eindringlich, dicht und atmosphärisch geschrieben ist. Ein spanischer Klassiker – Empfehlung! Julio Llamazares wurde 1955 als Sohn des Dorfschullehrers in Vegamián, in der nordspanischen Provinz León, geboren. Mit 12 Jahren wurde er in ein Internat nach Madrid geschickt. Er studierte zunächst Jura, arbeitete jedoch nur kurze Zeit als Rechtsanwalt. Statt dessen begann er in Madrid für verschiedene Medien journalistisch tätig zu werden. Seine erste literarische Veröffentlichung war der Gedichtband La lentitud des los bueyes von 1979, der den «Premio de Poesía Antonio G. de Lama» erhielt. Eine Essay-Sammlung El entierro de Genarín. Evangelio apócrifo del último heterodoxo español folgte 1981 und ein Jahr später weitere Gedichte unter dem Titel Memoria de la nieve, die mit dem «Premio Jorge Guillén» ausgezeichnet wurden. Neben den drei Romanen, Luna de lobos (1985, dt.Wolfsmond, 1991), La lluvia amarilla (1988, dt. Der gelbe Regen, 1991) und Escenas de cine mudo(1994, dt. Stummfilmszenen, 1998) sind von Llamazares auch journalistische Arbeiten und Reiseberichte in Buchform erschienen. Luna de lobos, der erste Roman, war in Spanien ein großer literarischer Erfolg und wurde zwei Jahre später unter demselben Titel, nach einem von Llamazares verfaßten Drehbuch, verfilmt. Die Erfahrung des Verlustes seines Geburtsortes - 1968 mußte das Dorf einem Stausee weichen - war prägend für das literarische Schaffen von Julio Llamazares. Die verlassene, vom Aussterben bedrohte ländliche Bergregion Leóns und Asturiens bildet immer wieder den Hintergrund seiner Werke. Im Zentrum steht das Verschwinden von Traditionen und eine Sensibilität, die die Natur als vom Menschen unabhängige Einheit betrachtet. In der Gegenüberstellung von ländlichem und städtischem Leben wird jedoch die Natur nicht idyllisch verklärt - sie ist vielmehr bestimmt von Einsamkeit, Überlebenskampf und Sterben.