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*Im Strom der Erinnerungen – ein vielschichtiger Generationenroman* In ihrem facettenreichen Roman „Flusslinien“ entfaltet Katharina Hagena die Lebenswege dreier Generationen, die sich - wie Strömungen eines Flusses - begegnen, kreuzen, auf subtile Weise miteinander verflechten, bevor sie schließlich neue Richtungen im großen Strom der Zeit einschlagen. Hagena gelingt es in ihrem tiefgründigen Roman eindrucksvoll, ein facettenreiches Portrait der menschlichen Schicksale ihrer drei Protagonisten zu zeichnen. Trotz aller Unterschiede in Alter und Lebenserfahrung verbindet sie ihre eingehende Auseinandersetzung mit Erinnerungen, Verlust, Trauma, Schuld und der Suche nach Selbstbestimmung und Heilung, wodurch eine bedeutungsvolle Verbundenheit geschaffen wird. Mit feinem Gespür verwebt die Autorin ernste Themen mit literarischen und kulturellen Anspielungen - von griechischer Mythologie über Fantasywelten bis hin zur Gartenkunst - und regt zudem zum Nachdenken über die sich wandelnde Rolle der Frau in Vergangenheit und Gegenwart an. Die Geschichte ist an der Elbe in Hamburg angesiedelt und erstreckt sich über zwölf Frühsommertage, die das Leben der Figuren nachhaltig prägen. Im Mittelpunkt steht die 102-jährige, ehemalige Stimmtherapeutin und Atemtrainerin Margrit, die in einer Seniorenresidenz lebt und auf ein faszinierendes Leben zurückblicken kann. Ihre 18 jährige Enkelin Luzie befindet sich nach einem traumatischen Erlebnis in einer schwierigen Lebenssituation, die sie ihrer Oma verschweigt. Kurz vor dem Abitur hat sie die Schule abgebrochen, lebt vorübergehend in einer Hütte am Elbufer und möchte Tätowiererin werden. Der 24-jährige Arthur arbeitet als Fahrer für Margrits Seniorenresidenz, erfindet neue Sprachen und engagiert sich beim Nabu. Nach einem dramatischen persönlichen Verlust hat er mit starken Schuldgefühlen zu kämpfen und hofft auf einen Neuanfang. Hagenas lebendiger, bildhafter Schreibstil durchzogen von feinem Humor ist individuell auf die verschiedenen Charaktere zugeschnitten, sodass wir gut in ihre persönlichen Lebensgeschichten eintauchen können. Die Autorin versteht es, die unterschiedlichen Generationen mit ihren jeweiligen Herausforderungen und Sichtweisen in Beziehung zu setzen: Die hochbetagte, lebenserfahrene Margrit, geprägt von der Gelassenheit des Alters, ihre impulsive Enkelin Luzie, die in jugendlichem Aufbegehren Halt und Identität sucht, sowie der 24-jährige Arthur, der als Vertreter einer bereits desillusionierten Generation im Spannungsfeld von biografischen Brüchen, Selbstfindung und wachsender Verantwortung seinen Platz sucht Die Erzählperspektive wechselt zwischen den Hauptfiguren und gewährt aufschlussreiche Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt, so dass der Spannungsbogen allmählich wird gesteigert. Faszinierend sind die zahlreich eingestreuten Rückblenden, die uns vor allem bei Margrit in bewegte Vergangenheit und die historischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts zurückführen. Insbesondere ihr Ausflugsziel der Römische Garten knüpft eine Verbindung zu ihrer Mutter Johanne und ihrer besonderen Beziehung zur historisch verbürgten Landschaftsarchitektin Else Hoffa, die diesen damals konzipierte und anlegte. Ausgezeichnet ist der Autorin die einfühlsame, vielschichtige Charakterzeichung ihrer Protagonisten gelungen, die lebendig und authentisch wirken. Jede der Hauptfiguren ist mit ihren Eigenheiten, Sehnsüchten, Wünschen und Ängsten überzeugend dargestellt. Besonders überzeugend hat die Autorin die persönlichen Schicksale der Figuren mit übergeordneten gesellschaftlichen Themen verknüpft – etwa Umweltschutz, das Älterwerden in einer sich wandelnden Gesellschaft sowie den Kampf gegen patriarchale Strukturen und sexuelle Gewalt. Besonders gelungen ist der Autorin auch thematische Auseinandersetzung mit Sprache und Kommunikation, die uns die verschiedenen Facetten menschlicher Kommunikation erkunden lässt. Die eindrucksvollen, atmosphärisch dichten Naturbeschreibungen der Hamburger Elblandschaft und des Römischen Gartens schaffen eine ganz besondere Stimmung, die gekonnt die seelische Verfassung der Charaktere subtil widerspiegelt. Die Autorin schließt ihren Roman mit einem bewusst offenen Ende ab – ein Spiegel des Lebens, das selten klare Perspektiven für uns bereithält. ZUM HÖRBUCH Das gekürzte Hörbuch besticht mit Ruth Reinecke, Chantal Busse, Julia Nachtmann und Jesse Grimm durch ein herausragendes Sprecherensemble, das jeder Figur mit ihrer lebendigen Lesung eine eigene, unverwechselbare Stimme verleiht. Die Besetzung der Rollen ist stimmig und die Interpretation von großer Dynamik und Einfühlungsvermögen. Dank der abwechslungsreichen und nuancierten Vortragsweise gelingt es den Sprechern, die unterschiedlichen Charaktere klar voneinander abzugrenzen und ihre unterschiedlichen Lebensalter und Perspektiven glaubwürdig wiederzugeben. Jede Figur erhält durch die individuelle Interpretation eine authentische Persönlichkeit, indem sie ihre Emotionen, Erinnerungen und Verletzlichkeiten fein herausgearbeitet werden. Die ruhigen Passagen, in denen Margrit Erinnerungen nachhängt, werden ebenso überzeugend vermittelt wie die impulsiven, manchmal emotional aufgeladenen Ausbrüche von Luzie. Die verschiedenen Stimmen bereichern das Hörerlebnis und machen es leicht, sich nicht nur auf die zahlreichen Stimmungswechsel einzulassen, sondern sich auch in die Beziehungen zwischen den Figuren hineinzuversetzen. Der komplexe, etwas verschachtelte Erzählstil erfordert allerdings erhöhte Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, sich auf die vielschichtige Geschichte mit den verschiedenen Zeitebenen einzulassen. Insgesamt bietet diese Hörbuchfassung aber eine sehr gelungene, atmosphärische Umsetzung, die durch die exzellenten Sprecherleistungen besticht. FAZIT Ein eindrucksvoll komponierter, vielschichtiger Generationenroman, der mit großer erzählerischer Kraft und viel Feingefühl die Lebenswege dreier Menschen miteinander verwebt. Wer sich auf die ruhige Erzählweise und die tiefgründigen Charaktere einlässt, wird mit einer bewegenden, nachdenklich stimmenden Geschichte belohnt.