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wandanoir

Posted on 19.4.2025

Kurzmeinung: Ein großer Erzähler ist hier am Werk und schlägt mit einem umwerfenden Debütroman auf! Ich bin wahr- und wahrhaftig begeistert. Rezensions-Titel: Eine warmherzige Geschichte über raues Fischerleben. Die Bonnars leben auf einer Insel schroffer Schönheit und rauer Lebensbedingungen. Wie viele auf der Insel ist Ambrose Bonnar Fischer. Mit Geduld und Entbehrung und unermüdlicher Arbeitskraft bringt es Ambrose zum eigenen Fischkutter, der Christine Dawn. Er hat den Kutter nach seiner Frau benannt. Schon diese Geste zeigt, wie ungewöhnlich Ambrose ist. Denn so was tut man nicht auf der Insel, so was bringt Unglück. Aber im Gegenteil: Ambrose tut sich eine Zeitlang mit seinem besten Freund Tommy O’Gara zum gemeinsamen Schleppnetzfischen zusammen und es kehrt ein gewisser Wohlstand ein ins Haus. Freilich, ein Fischerleben ist voller Überraschungen und vor allem voller Widrigkeiten. Was die Bonnars auszeichnet, ist die Tatsache, dass Ambrose und Christine ein Baby adoptieren, das vom Meer angeschwemmt wird. Sie haben aber schon einen kleinen Sohn. In der Folge konkurrieren die beiden Jungen, Brendan und Duncan um die Liebe des Vaters. Jeder fühlt sich auf eine eigene Weise benachteiligt. Der Kommentar und das Leseerlebnis: Erzählt wird von einer kollektiven „Wir“-Stimme aus, was dem Roman einen ganz besonders charmanten und gleichzeitig atmosphärischen Zungenschlag verleiht. Denn das Kollektiv-Wir bezieht die gesamte Community der kleinen Stadt mit ein. Das Kollektiv-Wir leiht sich deren Augen und Ohren, ebenso erreicht der ganze Dorftratsch den Leser, er ist stets auf dem neuesten Stand: „Johnny, the Matchbox, erkrankte an Krebs und kam ins Hospiz“ oder das Kollektiv-Wir gibt treffende Charakterisierungen des Menschenschlags wider: „Die Männer aus Donegal hatten beeindruckende Schlüsselbunde, wir neigten dazu, vieles in unserem Leben unter Verschluss zu halten.“ So etwas liebe ich! Natürlich steht die Familie Bonnar im Mittelpunkt der Erzählung und deren Anhang, da ist zum Beispiel die knöterige Phyllis, die Schwester von Christine und deren gemeinsamer Vater Eunan. Er war ein pflichtbewusster, aber liebloser Mann und wird nun ein Pflegefall und damit zum Familienproblem. Der Autor widmet sich jedoch auch ganz allgemein dem schwierigen Geschäft des Fischfangs. Kann man davon leben? Rentiert es sich noch, Fischer zu sein, was gibt es für Alternativen auf so einer kleinen Insel? Die Technisierung des Geschäfts bringt eine Hebung des Lebenstandards, aber letztlich viele Probleme. Fangquote. Geldkonzentration. Denn Gesellschaftskritik geht so: „Das Geld sammelte sich bei immer weniger Leuten“. Ist das nicht charmant? Zwei weitere Kostproben aus Carrs Erzählkunst: „Der Wind vom Atlantik hatte uns solange die Worte von den Lippen gerissen, bis wir lernten, ohne sie auszukommen.“ „Windböen fuhren in die Schonung, dass die Fichten knarrten.“ Ein wahrer erzählerischer Höhepunkt ist die Beschreibung einer Fangfahrt, als die Christine Dawn manövrierunfähig wird und das Meer allmählich zu wüten beginnt . Todesangst begleitet den echten Fischer quasi jeden Tag. Fazit: Eine wunderbare Geschichte, die alles hat, was einen tollen Roman auszeichnet: Erzählkunst, Familientragödie, Melancholie, das Meer, die Insel, das Wetter, das Leben, der Mensch. Und das alles ohne jegliche Larmoyanz. Keine einzige Seite hat mich enttäuscht. „Der Junge aus dem Meer“ ist mein erstes Lesehighlight 2025. Ich spreche eine Leseempfehlung für alle diejenigen aus, die wie ich „Nach den Fähren“ von Thea Mengeler liebten. Kategorie: Sehr gute Literatur Verlag: Rowohlt, 2025 Lesehighlight

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