
Buchdoktor
Der Mi'kmaq Lewis lebt in Nova Scotia/Kanada und arbeitet in der Beerensaison mit der gesamten Familie für den Obstfarmer Mr Ellis in Maine. Lewis wirbt die Pflücker an, transportiert sie auf die Farm und organisiert die Ernte. Da seine Frau Mae für die Kolonne kocht und die älteren Kinder mitarbeiten, bietet die Pflücksaison eine sichere Einnahmequelle, die jedoch nicht für den Unterhalt seiner Familie ausreicht. Dass 1962 die jüngste Tochter Ruthie spurlos von der Farm verschwindet, wird die Familie lebenslang traumatisieren und könnte als Begründung für die Entwurzelung der Söhne dienen. Damals hatte die US-amerikanische Polizei sich für nicht zuständig für die Suche nach Ruthie erklärt, weil die Familie keine amerikanische Staatsbürgerschaft hätte. Joe, nach Ruthie das zweitjüngste Kind, ist überzeugt davon, dass Ruthie noch irgendwo in der Region lebt. Er wird sich nach ihrem Verschwinden und dem Tod seines Bruders Charlie einige Jahre später lebenslang verantwortlich fühlen, dass seine Mutter nicht noch ein Kind verliert – und nicht nach diesem Motto handeln. Lewis Kinder gehörten noch zu der Generation, die von der Schulbehörde zur Umerziehung in Internate gesteckt wurde. Joe erinnert sich lebhaft, wie sie sich im Wald verstecken mussten, bis der Schulinspektor das Grundstück wieder verlassen hatte. Mr. Hughes war jedoch offenbar wenig motiviert, sie zu suchen, weil Lewis Familie nicht im Reservat lebte. In der Gegenwart liegt der inzwischen rund 60-jährige Joe im Sterben, umgeben von seiner Mutter und den überlebenden beiden Geschwistern. Joe hat nach einem schweren Unfall zu trinken begonnen, um seine Schmerzen zu betäuben, und ist erst kurz zuvor von einer Flucht vor seinen Schuldgefühlen quer durch den Kontinent zurückgekehrt. In Boston wächst derweil als Einzelkind Norma auf, unter steter Kontrolle ihrer ängstlichen, kontrollierenden Mutter Lenore. Die junge Frau ist sichtbar kein leibliches Kind ihrer Eltern, hat eine imaginäre Freundin namens Ruthie, vage Erinnerungen an einen Bruder und daran, bemuttert worden zu sein. Normas Fragen nach ihrer Herkunft werden unterdrückt mit der Ausrede, ihre Mutter würde davon Kopfschmerzen bekommen. Als der Konflikt eskaliert, vermittelt Mutters Schwester June zwar den Kontakt zu ihrer engen Freundin Alice, die als Therapeutin arbeitet, will jedoch nicht die sein, die das Familiengeheimnis aufdeckt. Joe und Norma erzählen abwechselnd aus der Ichperspektive, für Amanda Peters‘ Leser:innen bleibt die Perspektive unbefriedigend, weil sie die Zusammenhänge früh ahnen, jedoch warten müssen, bis die beiden Icherzähler dahinterkommen. Der Herkunfts- und Wohnort von Lewis Familie ist zwar durch eine Staatsgrenze von der Beerenfarm in Maine getrennt, da auf beiden Seiten Indigene leben, fand ich wenig glaubwürdig, dass die erwachsene Norma in Boston vorher nie auf ihre nichtweißen Züge angesprochen worden sein soll. Die Ereignisse lassen sich zeitlich einordnen: Joe ist 1956 geboren und reiste bis 1999 quer durch Kanada, 1962 verschwand Ruthie, 1971 starb der Bruder Charlie, die Rahmenhandlung spielt in der unmittelbaren Gegenwart. Selbst wenn die Vertuschung von Normas Herkunft für die 60er Jahre nicht ungewöhnlich ist, fehlt mir in der Lebensmitte beider Icherzählerstimmen eine persönliche Entwicklung und Aussöhnung, z. B. in einer Therapie oder Selbsthilfegruppe Betroffener. So besteht der Roman aus einem fesselnden Teil, der die Familie im Jahr von Ruthies Verschwinden in Maine zeigt, einem langen, flachen Mittelteil, in dem die Figuren, denen jeweils die Kindheit gestohlen wurde, sich kaum weiter entwickeln, und einem versöhnlichen Schluss. Insgesamt hätte ich mir vom Mi'kmaq-Hintergrund der Autorin erheblich mehr versprochen, selbst wenn ihre Figuren Lewis und Mae sich assimiliert haben und mit den Kindern nur Englisch sprachen. Ein Roman um Schicksale indigener Kanadier, Herkunft, biologische/soziale Elternschaft, transgenerationales Trauma – und die Verwurzelung von Lewis Generation in der Landschaft der amerikanischen/kanadischen Ostküste. Ein Roman mit Längen und sehr viel Drama. 3 1/2 Sterne