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ninchenpinchen

Posted on 13.4.2025

Süße Träume, aber für wen? Ich dachte, ich hielte einen Roman in Händen und war gar nicht auf ein Sachbuch eingestellt. Denn ich lese lieber Belletristik als Sachbücher. Dass sich aber „Das Lieben danach“ von Helene Bracht so flüssig wie ein Roman lesen würde, hätte ich auch nicht gedacht. Ebenso fiel mir nie zuvor die Tiefe des Textes von Annie Lennox auf, diesen „sweet dreams“ eben. Hier kann jeder jeden ausnutzen oder sich ausnutzen lassen. Jeder jeden missbrauchen oder eben – sich missbrauchen lassen. Vielleicht sogar mit einem gewissen Wohlgefallen. Ja, so ambivalent ist auch der Text des Romans. Ich habe selten so eine Eigenanklage gelesen, wenn sie denn autobiographisch ist, was so anmutet. Dennoch löst sich alles – zwar winzig klein – aber doch positiv auf, in gänzlich ungeahnter Weise. Beginnen wir mit dem Leben der Protagonistin im zarten Alter von fünf Jahren. Und Strecker, dem Missbraucher mit den ungeahnten Fähigkeiten. Denn er singt und dichtet und schafft es mit dem bedeutungsschwangeren Satz: „Du bist was ganz Besonderes“ das Kind alles Negative vergessen zu lassen. Und zwar immer wieder und wieder. Ist das die Kunst der Pädophilie? Das Kind freut sich aufs nächste Mal, obwohl es am Ende immer weh tut. Und bis schlussendlich die Mutter entdecken will und kann, was da los ist, ging das Spiel immer weiter. „Ein halbes Erwachsenenleben lang habe ich gebraucht, um den Köder >Du bist was ganz Besonderes< zu verdauen.“ (S. 57) „Und manchmal reicht eine ganze Lebenszeit nicht aus, um das wieder ins Lot zu bringen.“ (S. 133) Hier geht es um das Ausgeliefertsein beim sexuellen Missbrauch. Aber auch das Kind ist nicht frei von Schuld. Und wird zur Täterin. „Nüchtern betrachtet hatte ich mir den ersten Anblick eines männlichen Geschlechtsteils mit einer Rücksichtslosigkeit verschafft, die einem Übergriff nahekommt, einer missbräuchlichen Handlung. Ich hatte mich ungefragt eines schwächeren Wesens als Mittel zum Zweck bemächtigt.“ (S. 22) Die erwachsene Protagonistin ist nicht frei, tut sie doch immer das Gegenteil von dem, was möglicherweise angebracht wäre. Unfreiheit eingehandelt aus Trotz. Die sexuellen Partner und Partnerinnen wechseln schnell und an manche erinnert sie sich später gar nicht. Die sich an sie aber umso mehr. Verdrehte Welt. Was erst der Heiratsschwindler mit ihr anstellt, so was kann frau sich kaum ausdenken, das muss von irgendwem erlebt sein. Immerhin zwei Jahre Verweildauer sind dem Lügenbaron in ihrem Bett und Herzen vergönnt. Eine typische Gefahrensituation der damaligen Zeit, nämlich das Fahren per Anhalter, meistert Lene für sich und ihre Freundin mit Bravour, nur durch Sprache, ohne Gewalt. „Wenn sich das Sprechen den etablierten Erwartungen widersetzt, können bestehende Machtverhältnisse unterlaufen und soziale Grenzen überschritten werden.“ (S. 81) Fazit: Ein Debüt, das es in sich hat. Möglicherweise nichts für allzu zart Besaitete. Für Eltern und Psychologen und alle, die es werden wollen, sollte es allerdings Pflichtlektüre sein. Verdiente 4 Sterne von mir.

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