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anne_hahn

Posted on 13.4.2025

„Denn so war das ja mit dem Wasser, es konnte hell und lustig sein, den Menschen schweben lassen. Und es konnte packen, schwer machen, verschlingen. Doch etwas hatte Bille plötzlich berührt, hatte sie am Arm gefasst und Richtung Ufer geschoben. Billes Fuß war auf Grund gestoßen, und der Schlund unter ihr hatte sich geschlossen. Da hatte sie das sanfte Gesicht gesehen und Augen, die ihr folgten. Und obwohl Adam sie gleich losließ, und obwohl er kein Wort zu ihr gesprochen hatte, war das der Beginn ihrer Geschichte.“ Bille und Adam sind für mich die "Helden" des Buches. Im ersten Teil und über knapp hundert Seiten geht es um eine Glashüttensiedlung in Gerresheim um das Jahr 1901 herum. In der Glashütte werden Flaschen hergestellt, also "geblasen". Total spannend, sich das vorzustellen! Das Mädchen Bille arbeitet in der Weberei, wie für Töchter und Frauen der Glasbläser üblich, ihr Vater ist Glasbläser. Am Fluss, wo Bille mit ihrer Freundin schwimmen gehen will, passiert obige Szene und sie begegnet Adam, einem "Püster", der Glasflaschen bläst. Sie verlieben sich und träumen den Traum des Auswanderns. Doch dann bricht ein Streik aus und spaltet die Arbeiterschaft, Adam ist gegen den Streik und wird damit zum Streikbrecher und Verräter... Im zweiten Teil des Buches wird von Leonie erzählt, der Tochter des Glashüttenarztes, die ebenfalls, nur auf einem viel höherem Nivea als Bille, gefangen ist in familiären und gesellschaftlichen Zwängen. Ihre Geschichte erschien mir etwas gleichförmiger und langweiliger als die Billes, und ich hoffte die ganze Zeit, die beiden, die wirklich unweit voneinander lebten und sich sogar mitunter über den Weg laufen, würden sich kennenlernen und austauschen. Denn Bille hat etwas von dem geheimen Wissen der Korbflechterin und Kräuterfrau, die sie seit Kindesbeinen kennt, bewahrt und könnte Leonies Vater nützlich sein. Die Autorin verknüpft die Geschichten der Arbeiter und der reicheren Arztfamilie geschickt umeinander, sodass wir bis zum Schluss mit ihnen bangen und hoffen: Wie geht der Streik aus? Werden Bille und Adam wieder ein Paar? Erreichen sie gemeinsam das Schiff nach Amerika? Wen sucht sich Leonie als Lebensgefährten aus und wie wird dieses Leben aussehen? In bildreicher Sprache und mit packenden Einfällen gespickt erzählt Dorothee Krings ein (bis zwei) Liebesgeschichten aus der Zeit der Industrialisierung, die Parallelen zu heute aufweist. Die Autorin in einem Interview: "Ich komme selbst aus einer Goldschmiedefamilie und begeistere mich für handwerkliches Können, das über Generationen weitergegeben wird. Auf den Stoff gestoßen bin ich durch einen Lehrer meines Pflegesohnes. Er erwähnte beiläufig den Generalstreik der Glasmacher von 1901 und erzählte von den Folgen für die Arbeiter in Düsseldorf-Gerresheim, wo ich heute lebe. Ich habe mich sofort gefragt: und die Frauen? Wie haben sie unter den Sanktionen gegen die Streikenden gelitten? Wer erzählt ihre Geschichte? Das hat mich gereizt, eine Streik- und Industriegeschichte aus weiblicher Perspektive zu schreiben. Inzwischen wohne ich in einem denkmalgeschützten Haus der ehemaligen Glashüttensiedlung. Nachts leuchtet über unserem Viertel das einst weltberühmte Firmenzeichen, das gekrönte G – für mich ist es auch Wahrzeichen eines bedeutenden Kapitels deutscher Arbeitergeschichte. Aber davon wissen viele nichts mehr. Ich sehe meinen Roman auch als Beitrag zur Neubestimmung des Genres Heimatroman. Für mich sind das Geschichten, die leidenschaftlich vom Leben und von den Kämpfen der Menschen erzählen, auf deren Schultern wir stehen. Ich glaube, dass es zu einem aufgeklärteren, friedlicheren, verständnisvolleren Miteinander beiträgt, die eigene Geschichte zu kennen. Aktuelle Themen wie Migration, Gerechtigkeit und die Bedeutung von Arbeit haben schon früher eine Rolle gespielt. Und unsere Vorfahren haben taugliche oder weniger taugliche Antworten auf Fragen gefunden, die wir uns heute wieder stellen."

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