
Buchdoktor
In New Yorks Chinatown entlang des East Broadways haben sich Old Second und Bao Mei in den letzten 35 Jahren bucklig gearbeitet. Während draußen gegen die Gentrifizierung ihres Viertels demonstriert wird, geht das Leben des alten Paares in ihrer ärmlichen Wohnung gerade zu Ende. Beide kamen in den Booten von Menschenhändlern in die USA; zumindest Old Second war illegal beschäftigt und daher rechtlos. Das körperlich verbrauchte Paar verbindet eine Vergangenheit in einem chinesischen Bergdorf, die mit dem Brand in einem heruntergekommen Kino endete. Das Arbeiter-Kino diente als Treffpunkt homosexueller Männer, die zu ihrem Schutz meist Scheinehen mit Frauen einegangen waren. Über das Kino wachte damals Bao Mei, die die Männer beschützte und sich selbst vormachte, damit schützte sie auch die - oft unwissenden - Frauen. Loyalität beider Partner vorausgesetzt, waren die Frauen tatsächlich vor überlieferten Rollenerwartungen geschützt. Dass es bei dem Brand des Kinos Todesopfer gab, wirft für in chinesische Verhältnisse eingeweihte Leser:innen allerdings die Frage auf, ob ein homosexueller Mann, der keinen Sohn gezeugt hat, seine Totenruhe finden kann und ob die Macht der Totengeister bis nach New York reichen könnte. Die Feierlichkeiten zum Totengedenktag, dem Qingming-Fest, muss nach ländlichen Sitten der älteste Sohn der Verstorbenen durchführen ... Auch im China Town New Yorks in unserem Jahrhundert spielen Scheinehen zur Erlangung einer Green-Card eine wichtige Rolle. Old Second, dem zweitältesten Bruder, und Bao Mei gelingt es jedoch in der Neuen Welt nicht, ihre alte Identität mitsamt den Ereignissen im Kino abzulegen. Fazit Unterlegt mit anspielungsreichem chinesischem Humor und einer großen Portion Tragikomik lässt Jiaming Tang uns in den trostlosen Alltag einer Zweckehe blicken, die Sitten und Aberglauben des ländlichen China im New York der Gegenwart fortsetzt. Insgesamt stellt der Autor die Frage, ob Loyalität über den Tod hinausgeht und plädiert mit seinem Roman dafür, jeden nach seiner Fasson glücklich werden zu lassen. Eine gewisse Toleranz für chinesische Sitten und ländlichen Geisterglauben hilft, die Ereignisse einzuordnen.