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marcello

Posted on 9.4.2025

Sich im Krimigenre neu zu erfinden, das ist echt eine Herausforderung. Für mich ist es kein Muss, an einer neuen Reihe hängen zu bleiben, weil ich bei diesem Genre doch vielmehr Wert darauf lege, dass die Spannung bis zum Schluss erhalten ist und dass es nicht zu vorsehbar wird. Der isländische Autor Jón Atli Jónasson hat mich mit „Schmerz“, dem Auftakt seiner Reihe rund um Dora und Rado, auf jeden Fall überrascht. Das Genre neu erfunden, wäre jetzt wohl auch völlig übertrieben, um „Schmerz“ zu beschreiben, aber auf eine gewisse Weise war es extrem frisch für mich gestaltet. In der Art hat es mich am meisten an Jussi Adler Olsen erinnert, da es um zwei völlige Außenseiter geht, die die Ermittlungen auch sehr unkonventionell angehen. Dennoch sind die Figuren nicht einfach mit Rosa, Assad und Carl gleichzusetzen. Doras Erlebnis, der ihr einen Gehirnschaden zugefügt hat, ist gleich zu Beginn des Buchs ein Ausrufezeichen. Die Dora vor dem Ereignis lernen wir im Grunde gar nicht kennen, stattdessen haben wir die neue Version, die an den Schreibtisch verbannt ist, die aber gleichzeitig mit das cleverste ist, was die Polizei in Reykjavík so anzubieten hat. Es war schon eine Mischung aus amüsant und unfassbar, was wir dann geboten bekommen. Dass Dora fast keine Schranke mehr im Kopf hat und alles raushaut, das ist echter Wahnsinn, gerade in dem Beruf. Umgekehrt haben wir Rado, der deutlich normaler ist, um den herum privat aber alles explodiert, was wiederum ihn so spannend macht. Er steht auf der rechten Seite des Gesetzes, aber seine Schwiegerfamilie hat jahrelang krumme Geschäfte betrieben und dazu hat Rado auch in seiner eigenen Blutsfamilie noch ungeklärte Dinge, die ihn heimsuchen. Bei den Figuren ist deutlich zu merken, dass sie genutzt werden, um langfristig etwas aufzubauen. Doras gesundheitlicher Zustand wird nicht einfach behoben werden können und Rado gespalten zwischen beruflicher Hingabe und familiärer Loyalität wird ebenfalls erhalten bleiben. Genauso wichtig ist aber die wachsende Beziehung der beiden Ermittler. Sie starten im Grunde als Unbekannte. Sie kennen sich zwar, aber mehr vom Sehen als wirklich menschlich, weswegen auch viele Vorurteile im Spiel sind, als sie zufällig Partner werden. Aber es ist dann interessant mitzuverfolgen, wie etwas zwischen ihnen wächst. Dora ist der Kopf, Rado ist der Macher. Zudem ist auch zu erkennen, dass sie beide nicht viel zu verlieren haben, weswegen nicht immer alles konventionell zugeht, sondern beide auch auf Regeln und Grenzen pfeifen. Dadurch ist in der Geschichte stetig Zug drin und es hat schon bald etwas Ikonisches, wenn man Dora und Rado so erlebt. Ich habe „Schmerz“ als Hörbuch gehabt. Somit hatte ich die Stimme von Günther Harder im Ohr. In dem Genre ist es üblich, dass man nur einen Erzähler hat, unabhängig von den Geschlechtern und den Perspektiven. Das ist auch im Kern okay, auch weil man speziell Dora und Rado schnell unterscheiden konnte. Komplex wurde es aber dann, weil wir noch weitere Perspektiven hatten und da war es gerade in der ersten Hälfte schon mal schwieriger, um wen es jetzt Neues geht und was er wohl für eine Rolle spielt. Liest man es, kann man sich besser an die Seiten binden, im Hören hat es einen flüchtigeren Charakter, aber in der zweiten Hälfte war es spätestens okay. Inhaltlich hätte ich zum Fall noch etwas zu sagen. Positiv ist sicherlich, dass die Handlung in der Intention komplexer gedacht ist. Durch die Razzia gegen Rados Schwiegerfamilie haben wir das über dem Geschehen schweben und wir haben den Vermisstenfall der jugendlichen Morgan. Beide Fälle für sich wirkten nicht sonderlich spektakulär und haben mich auch nicht unbedingt zum Miträtseln eingeladen. Aber man hat schon gemerkt, dass Jónasson seine Geschichten groß und zusammenhängend denkt. Auch wenn es am Ende alles was schnell und abrupt ging, aber es wurde mir im Kern bewiesen, dass der Autor erzählerisch etwas drauf hat. So war der erste Band auf dieser Krimi-Ebene noch nicht übermäßig beeindruckend, aber im Kontext der spannenden Figuren hat er einen mehr als soliden Rahmen mit Potenzial für die Zukunft gegeben. Fazit: Ich werde mir wohl den isländischen Autor Jón Atli Jónasson merken, denn „Schmerz“ macht vor allem wegen Rado und Dora Lust auf mehr. Zwei Außenseiter, die für sich einen spannenden Teil einbringen, die aber auch zusammen etwas ausstrahlen, was schnell auf die angenehmste Art Vertrauen ausdrückt. Der Fall bzw. die Fälle sind keine großen Ausrufezeichen, aber sie betten alles gut ein. Da schaue ich gerne nochmal vorbei.

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