
dorli
Tim Pieper beginnt seinen Thriller „Die Mündung“ mit einem neugierig machenden Prolog: ein Mann in einem Segelboot kreuzt das Fahrwasser im Bereich der Elbmündung dicht vor dem Bug eines Containerschiffes - er versucht, mit dem waghalsigen Manöver seine Verfolger abzuhängen… Im Folgenden lerne ich Lena Funk kennen - die Kriminalhauptkommissarin hat sich eine Auszeit genommen, um zu verarbeiten, dass ihre Schwester Jette einem Serientäter zum Opfer gefallen ist. Lena verbringt deshalb einige Zeit als Umweltpraktikantin auf der Vogelinsel Scharhörn. Doch wiederkehrende Albträume und der Eindruck, dass die mit dem Fall betraute SoKo bei den Ermittlungen geschlampt hat, lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Interessant wird es, als Lena nach einem Unwetter eine männliche Leiche in den Dünen entdeckt. Der offensichtlich ermordete Mann hat Schmuckstücke bei sich, die der sogenannte Gezeitenmörder von seinen Opfern als Trophäe behalten hat. Auch ein Anhänger von Jette ist dabei… Nach diesem Fund will Lena wieder mitermitteln und macht sich auf die Suche nach Antworten - und ich bin zunächst einmal irritiert, denn Lena verhält sich ganz und gar nicht wie eine erfahrene Kripo-Beamtin. Die Erklärung, warum ihre Ermittlungen so untypisch und nachlässig wirken, lässt nicht lange auf sich warten und hat es in sich… In diesem Thriller ist vieles nicht so, wie es auf den ersten Blick erscheint. In einem dem Prolog vorangestellten Zitat von der US-amerikanischen Psychologin Elizabeth Loftus heißt es: „Unser Gedächtnis arbeitet konstruktiv. Es arbeitet rekonstruktiv. Das Gedächtnis funktioniert ein bisschen wie Wikipedia: Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch.“ Diese Worte lassen bereits erahnen, dass Tim Pieper sich für seine Protagonistin und damit auch für den Leser ein paar besondere Herausforderungen ausgedacht hat - so muss Lena sich im Verlauf der Handlung die Frage stellen, wie sie den Fall lösen soll, wenn sie ihren eigenen Erinnerungen nicht trauen kann. Und ich frage mich ständig, was hier tatsächliches Geschehen ist und welche Ereignisse aufgrund von Manipulation Hirngespinste sind und nur scheinbar geschehen. Tim Pieper wartet mit einer raffiniert gestrickten Geschichte auf, die voller falscher Fährten und dramatischer Wendungen ist. Die Spannung ist dabei von Anfang an auf einem hohen Level und wird durch unerwartete Ereignisse, temporeiches Geschehen und das stückweise Aufdecken von Hintergründen immer wieder aufs Neue befeuert. Und auch die unterschiedlichen Zeitebenen tragen dazu bei, dass die Handlung einen enormen Sog entwickelt. Während ich in Rückblenden erfahre, was vor Jettes Verschwinden passiert ist und zudem die familiären Angelegenheiten der Schwestern kennenlerne, kann ich in dem gegenwärtigen Part prima mit den Akteuren mitfiebern und rausche so mit großer Geschwindigkeit durch das Buch, immer begierig darauf zu erfahren, wer hier seine kriminellen Finger im Spiel hat. Als sehr gelungen habe ich auch die Beschreibungen der Schauplätze empfunden - die rauen Bedingungen an der Küste, der Wechsel von grauen Nebelschleiern und stürmischen Winden, das Spiel der Gezeiten und auch die Einsamkeit des Wattenmeers sorgen für eine düstere Atmosphäre und geben der Thrillerhandlung den passenden Rahmen. „Die Mündung“ hat mir sehr gut gefallen - ein Thriller, der mit einem abwechslungsreichen Geschehen punkten kann und mir ein paar spannende Lesestunden beschert hat.