
Buchdoktor
Als Henry Meadows in das von Menschen angelegte Biom Lyneham auf dem Mond Perm kommt, ist er 12 Jahre alt, das mittlere Kind zwischen seinem älteren Bruder Chester und der jüngeren Schwester Loy. Die Kinder und ihr Vater Charles sind getrennt von Mutter Mildred gereist, so dass nicht nur sie sich fragen, wann die Mutter eintreffen wird. Mildred Meadows lernen wir durch ihre datierten Aufzeichnungen kennen und realisieren dabei, dass es auf dem Planeten unterschiedliche Zeitverläufe gegeben haben muss. Als Wissenschaftlerin stand Mildred in ihrer Zeitschleife unter dem Druck, u. a. Verbesserungen der Sauerstoffversorgung auf Perm zu entwickeln, da keine Güter oder Rohstoffe vom Heimatplaneten zu erwarten sind und es für die Siedler kein Zurück geben wird. Auch Henry hat die Rolle des Berichterstatters übernommen; er vermittelt sehr offen die wachsenden Zweifel der Kinder an den Erzählungen ihres Vaters. Besonders Loy fordert Charles heraus, wie sie mit unerschütterlicher Logik und Beharrlichkeit der Wahrheit auf den Grund gehen will. Die Kinder treffen in ihrem neuen Lebensraum auf originelle Wesen, die ursprünglich Elektrogeräte waren, inzwischen jedoch unterrichten wie Frau Strom, die Bohrmaschine, oder Ronny, die künstliche Niere, die für Henry zugleich als Medizingerät und als redseliger Berater tätig wird. Bis hierher wirkte das Worldbuilding auf mich noch episodenhaft, viele Fragen blieben offen. Die Sauerstoff-, Wasser- und Wärmeversorgung auf Perm steckte offenbar ebenso in den Kinderschuhen wie die Anpassung menschlicher Körper an die neue Umgebung. Auch ob die kleine Gemeinschaft sich überhaupt fortpflanzen kann, hatte bisher niemand bedacht. Unter der Fuchtel von Mildreds Chef Noah herrscht auf Perm offensichtlich ein totalitäres System, dem niemand entgehen kann und auf das bereits Kinder eingeschworen werden. Besonders Henry gerät unter Druck, als er darauf beharrt, endlich zu erfahren, wo seine Mutter geblieben ist. Durch den Wechsel der Icherzähler Mutter und Sohn mit ihrem jeweils eingeschränkten Wissen wird allmählich die ethische Problematik von Mechthilds Forschung deutlich, ihre Abhängigkeit von Noah – und welchen Preis sie und ihre Familie für das Leben auf dem extrasolaren Mond zu zahlen haben. Als die Meadows realisieren, dass sie sich nicht auf den einmal erlangten Status verlassen können, sondern um ihren Platz kämpfen müssen, steigt die Spannungskurve der bisher gemächlich personenzentrierten Handlung kräftig an. Das Warten darauf, dass Charles und Mildred endlich „auspackten“, fand ich ausgesprochen spannend. Bewegt hat mich u. a. die Frage, wie man intelligente Geräte wie Strom und Ronny zu Loyalität gegenüber ihren Besitzern trainiert. Bei der verblüffenden Auflösung der Rätsel um Perm wird diese Frage eine wichtige Rolle spielen. Fazit „Lyneham“ hat mir mit seinem komplexen Worldbuildung und der für einen SF-Stoff ungewöhnlichen Besetzung durch eine Familie mit Kindern anregende Lesestunden geboten, in denen ich alles Vertraute infrage stellen musste und ein Teil der Handlung in meinem Kopf stattfand.