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Der Roman beginnt mit einem dramatischen Höhepunkt. Klara, eine sehr engagierte Architektin, verheiratet und Mutter der 11 jährigen Ada, stürzt bei einer Wanderung von einem Steilhang und stirbt. Ihre Begleiterin Paulina verhält sich angesichts des Notfalls merkwürdig und braucht lange, um die Rettung zu alarmieren. Dieser Einstieg hat mich gepackt. Was hat es mit den beiden Frauen auf sich? Im weiteren Verlauf wird die Geschichte von vorn erzählt. Paulina, eine Krankenschwester aus der Slowakei, geschieden und Mutter von zwei pubertierenden Jungen, pflegt seit einem Jahr Klaras Mutter, die nach einem Schlaganfall in deren Haus gezogen ist. Im 14 tägigen Rhythmus wechselt sich Paulina mit Radek ab. Ihre Söhne bleiben während ihrer Abwesenheit bei ihrer Schwiegermutter, die ihr deshalb immer wieder Vorhaltungen macht. Paulina macht ihre Arbeit so gut, dass Klara und ihr Mann Jakob ihr immer neue Aufgaben übertragen. Sie bezahlen sie großzügig, nehmen aber keine Rücksicht auf ihre Bedürfnisse. Paulina entfremdet sich zunehmend von ihren Kindern, ihr schlechtes Gewissen frisst sie auf. Das nach außen hin freundlich wirkende, in Wahrheit aber herablassende, rücksichtslose Verhalten ihrer Arbeitgeber macht Paulina nach und nach immer wütender. Obwohl Klara zu ihrer Tochter Ada, die praktisch von ihrer Großmutter groß gezogen wurde, ein distanziertes Verhältnis hat, gibt sie dem Wunsch ihres Mannes Jakob nach einem weiteren Kind nach. Damit kommt das mühsam aufrechterhaltene Gleichgewicht in dem Haushalt ins Wanken. Jakob tut nichts, um seine Frau zu unterstützen, sondern lebt entspannt von ihrem Verdienst. Die Streitigkeiten häufen sich, und auch in Paulinas Familie eskalieren die Konflikte. Auf knapp 200 Seiten behandelt die Autorin viele aktuelle Themen. Der Pflegenotstand und die Situation der 24 Stunden Pflegekräfte aus Osteuropa stehen im Vordergrund. Es geht daneben um die Vereinbarkeit von Familienarbeit und Berufstätigkeit für Frauen, um über Generationen weitergetragene familiäre Konflikte, um mangelnde Kommunikation und um die Frage der weiblichen Selbstbestimmung. Die Perspektiven wechseln, so dass man sich gut in beide Protagonistinnen hinein versetzen kann. Jede will ihre Aufgaben perfekt erledigen, jede giert nach Anerkennung, jede ist in ihrem System gefangen. Die Sympathie der Autorin liegt eindeutig bei Paulina. Die männlichen Figuren sind für meinen Geschmack zu einseitig negativ dargestellt. Der polnische Pfleger ist zutiefst unsympathisch, Jakob macht sich auf Klaras Kosten ein schönes Leben und ist übergriffig, Paulinas Ex-Mann kümmert sich nicht um seine Söhne, überhäuft sie aber wegen ihrer Arbeit mit Vorwürfen. Der Schreibstil von Susanne Gregor finde ich ungewöhnlich. Er wirkt nüchtern, fast dokumentarisch. Dennoch erschafft er eine deutlich spürbare beklemmende Stimmung. Ich musste öfter eine Pause beim Lesen machen, um durchzuatmen. Eine eindrucksvolle Leseerfahrung, über die ich noch länger nachdenken werde.