
dorli
Die 94-jährige Elisabeth Liebig ist vor kurzem in ein Hamburger Seniorenheim gezogen, um in der Nähe ihrer Familie zu sein. Die Folgen eines Schlaganfalls haben es unmöglich gemacht, dass sie weiterhin allein in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg lebt. Die Wohnung soll verkauft werden, daher macht sich Elisabeths Tochter Anja daran, den Haushalt aufzulösen. Unterstützt wird Anja dabei von ihrer 19-jährigen Tochter Lena. Beim Ausräumen der Wohnung finden die beiden Frauen Fotos, Briefe und Gegenstände, die sie nicht nur neugierig auf ihre Familiengeschichte machen, sondern die gleichzeitig auch Fragen aufwerfen und ein dunkles Geheimnis vermuten lassen. Ein zweiter Handlungsstrang spielt im Berlin der 1920er und 30er Jahre. Clara Brand wächst in einfachen Verhältnissen in Berlin-Neukölln auf. Bereits in jungen Jahren arbeitet sie in der Spülküche der Kindl-Brauerei, um etwas zum Familieneinkommen beizutragen. Die monotone, körperlich anstrengende Arbeit verlangt Clara und ihren Kolleginnen einiges ab. Hinzu kommt ein Vorarbeiter, der alle ständig drangsaliert und schikaniert. Als Clara sich bei einem Vorfall zur Wehr setzt, wird sie fristlos entlassen. Der Verlust ihres Arbeitsplatzes erweist sich als Glück im Unglück - Clara bekommt eine Anstellung als Hundebetreuerin angeboten. Ein Job, mit dem sie den Grundstein für ihre berufliche Zukunft legt. Katharina Fuchs hat einen tollen Schreibstil, der mich immer wieder begeistert. Es braucht nur wenige Seiten und schon bin ich mittendrin in der Welt der Protagonisten und verfolge gespannt, was ihnen auf ihren Wegen widerfährt. Katharina Fuchs verbindet das ereignisreiche Leben ihrer 1904 in Berlin geborenen Großtante Clara mit einer genauso fesselnden wie unterhaltsamen fiktiven Geschichte, die bis in das Jahr 2024 reicht und in Berlin und Hamburg spielt. Die Autorin lässt mich dabei nicht nur an den Höhen und Tiefen teilhaben, die die Zeit der Weimarer Republik mit sich brachte, sie macht auch deutlich, dass sich die Herausforderungen, mit denen wir heutzutage konfrontiert werden, gar nicht so sehr von den damaligen Problemen unterscheiden. In „Vor hundert Sommern“ kann ich mitverfolgen, wie es Clara in der Zwischenkriegszeit ergangen ist, wie aus der Flaschenspülerin die Besitzerin eines Hundesalons wurde. Ich begleite Anja durch ihren herausfordernden Alltag, bis es ihr gelingt, ein Gleichgewicht zwischen familiären Verpflichtungen und eigenen Bedürfnissen zu finden. Ich beobachte Lena, die sich auf der Suche nach ihrem Platz im Leben befindet und noch ein wenig orientierungslos umherdriftet. Und ich lausche Elisabeths Erzählungen, die wie eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf mich wirken. Besonders in dem zeitgenössischen Part wartet Katharina Fuchs mit einer wahren Flut an Themen auf - gefühlt alles, was uns aktuell in unserem Alltag beschäftigt und bewegt, scheint Einzug in die Geschichte gehalten zu haben. Mir hat diese Vielfalt sehr gut gefallen, weil sie das Leben von Anja und ihrer Familie authentisch macht und die Hektik unserer Zeit widerspiegelt. Ich hätte mir diese Fülle auch für den historischen Teil gewünscht; hier gerät manches für meinen Geschmack ein wenig zu knapp. Katharina Fuchs hat ein sehr gutes Händchen für stimmige Atmosphäre. Sie trifft den Zeitgeist auf beiden Zeitebenen ganz hervorragend - trotz aller Parallelen, die im Verlauf der Handlung deutlich werden, spürt man beim Lesen durchweg, dass sich die Mentalität und die Eigenarten der Menschen von heute und von vor einhundert Jahren eben doch in einigen Dingen unterscheiden. Eine Sache hat mich bereits während des Lesens und auch danach noch besonders beschäftigt: Schulden unsere Vorfahren uns die Wahrheit über die Dinge, die sie erlebt haben? Haben wir wirklich ein Recht darauf zu erfahren, was vorherige Generationen durchgemacht haben? Lena bedrängt ihre Oma geradezu, ihre Erinnerungen preiszugeben. Elisabeth kommt dem schließlich nach und erzählt von Dingen, die sie ihr Leben lang verschwiegen hat. Dabei merkt man deutlich, wie sehr sie das Erzählen belastet. Alte Wunden werden aufgerissen, Schuldgefühle ans Licht gezerrt. Ich habe es in dem Moment als falsch empfunden, dass Elisabeth die zum Teil sehr schmerzhaften Erfahrungen und Emotionen gedanklich noch einmal durchleben musste. Vielleicht ist der Zeitpunkt, sich ein traumatisches Erlebnis von der Seele zu reden, irgendwann einfach überschritten und dunkle Geheimnisse sollten das bleiben, was sie sind - geheim. „Vor hundert Sommern“ hat mir sehr gut gefallen - ein anschaulich und lebendig erzählter Familienroman, der mir ein paar kurzweilige Lesestunden beschert hat und mich ein wenig nachdenklich zurücklässt.