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Der Anfang: «Wie schön, hier aufzuwachen. Kurz vor sechs kräht der Hahn sein Lied. Wenig später dringen die ersten Klänge des erwachenden Dorfes an mein Ohr: Tomás mit dem Motorpflug, Javier mit dem Motorpflug, Rogelio mit dem Traktor, Paco mit dem Motorpflug.» Enrique, ein woker Stadt-Hipster, zieht zu seiner Tante nach La Cañada, in ein 200-Seelen-Dorf im Osten von Spanien, um dem Stadtleben zu entfliehen, einen biologischen Gemeinschaftsgarten anzulegen und seine Ex-Freundin zu vergessen. Er hat «Leeres Spanien» gelesen und will etwas dafür tun, es wieder zu bevölkern, will Freunde überreden, mit ihm eine Art Landkommune zu eröffnen. Morgens macht er Yoga im Hof; der Dorfladen ist kein Carrefour und er sucht vergebens nach Quinoa, Fair-Kaffee einem Moleskine. Die Bar hat keine Sojamilch für den Café con leche, es gibt keine Veggie-Burger und Handyempfang gibt es leider nur außerhalb vom Dorf auf einer Anhöhe. Hier muss sich etwas ändern! Auch wenn sich zu seinem Workshop zum Thema «Neue Männlichkeit» vorerst nur seine Tante und vier weitere Frauen einfinden und die Drohne, die seine Amazon-Bestellung liefert, in der Folge eine Scheune vom Sägewerk in Brand setzt - kämpft Enrique weiter tapfer dafür, die Landbevölkerung in der Moderne zu verorten. «Ich habe beschlossen, mich ans Werk zu machen. Ich kann nicht warten, bis der Bürgermeister sich pro oder contra äußert. Ich habe mir gedacht, ich muss bei null anfangen, und werde einen Workshop zur neuen Männlichkeit anbieten. Ich bin zur Sekretärin gegangen und habe sie gebeten, über die Lautsprecheranlage des Rathauses Folgendes zu verbreiten: Hiermit wird bekannt gegeben, dass für alle, die Lust haben, ab jetzt immer dienstags ein didaktisch-lebenspraktischer Workshop zur neuen Männlichkeit aus genderkritischer Sicht stattfindet.» Stadtkind trifft auf Landeier, versucht, ihnen zu erklären, wie die Welt funktioniert, möchte sie zu besseren Menschen zu machen. Ist Melken nicht eine Form sexueller Belästigung? Der Marokkaner hilft Enrique, sein Feld einzurichten, und als an einem Felsen am Rain jemand «Fremde raus!» geschmiert hat, hält er in der Kneipe einen Vortrag über Fremdenfeindlichkeit, die Akzeptanz anderer Religionen – bis ihm einer steckt: Mohamed ist gar nicht gemeint. Enrique entpuppt sich als heldenhafter Stierflüsterer und wird schließlich sogar zum Bürgermeister gewählt. Ein Buch über den Spanischen Bürgerkrieg, ein amerikanischer Sänger, der der kulturellen Aneignung beschuldigt wird, weil er in der traditionellen Tracht von La Cañada auftritt, und einige Gefallenin diesem Zusammenhang, die er Freunden und Verwandten leisten muss, ringen Enrique einiges ab. Er ist jetzt einer von ihnen! Eine feine Satire voller Sarkasmus und respektvoller Ironie die von den Abenteuern eines Hipsters aus Madrid in einem Dorf in Aragonien, in der Provinz Teruel, berichtet, beleuchtet Feminismus, Ökologie oder kulturelle Vielfalt aus einem anderen Blickwinkel, dem ländlichen. Eine Karikatur auf unsere Gesellschaft. «WORKSHOP-GRUPPE NEUE MANNLICHKEIT ROSARIO LAFAJA, HAUSFRAU: Also ich fand den Workshop wirklich sehr interessant. ADORACIÓN TENA, HAUSFRAU: Und wie er geredet hat! ROSARIO: Besser als der Pfarrer. ASCENCIÓN TENA, HAUSFRAU: Etwas anstrengend war das mit dem ständigen ‹Männlein› und ‹Weiblein›» Eine herrliche Satire auf die Arroganz, alles besser zu wissen und anderen seinen Lebensstil aufzudrücken. Die abenteuerliche Geschichte eines modernen Don Quijote, der voller Zuversicht und Tatendrang die Mission verfolgt, Nachhaltigkeit, Identitätspolitik und Wokeness in die Provinz zu tragen. Er hält Reden über den Spätkapitalismus, die wahrscheinlich nur er versteht. Klingt aber unheimlich gebildet. Und er trifft auf Greta Thunberg. Das Buch ist auch insofern lesenswert, weil es eine Menge über die spanische Mentalität aussagt, die Gelassenheit, Offenheit gegenüber Fremden und neuen Ideen. Und der spanische Humor liebt die Satire! «Manchmal kommt der Pfarrer nachmittags in die Bar, Alejandro, der für mehrere Dörfer zuständig ist. Er parkt den Wagen in der Garage gegenüber der Schule. Man nennt ihn hier die 113, weil er immer dann kommt, wenn die 112, der Krankenwagen, nicht rechtzeitig eingetroffen ist. Er erzählt, er sei kürzlich bei einer Verkehrskontrolle von der Guardia Civil angehalten worden, nachdem er in mehreren Dörfern den Gottesdienst gehalten hatte. Bevor er ins Röhrchen blies, sagte er: ‹Jetzt werden wir sehen, ob das mit der Wandlung funktioniert.›» Der Roman ist eine scharfsinnige Glosse auf die Debatten unserer Zeit. Daniel Gascón schreibt ein bisschen chaotisch, passend zu seinem Protagonisten, mal der ersten Person und manchmal in der dritten. Ein wenig Tagebuch, mal Notizen mit vielen Zitaten, dann journalistische Interviews mit den Dorfbewohnern, um zu zeigen, was sie von ihm halten, ebenso Zeitungsberichte. Bis zur Mitte ist das Buch ein Kracher, dann flacht es leider ein wenig ab und es kippt in einen anderen Stil. Letztendlich definieren sich nun die verschiedenen Kapitel als eine Ansammlung von Kurzgeschichten. Manchmal ist es etwas übertrieben bis belanglos und andere sind zum Brüllen, wie die Sache mit dem historischen Buch, bei dem man ein wenig schummeln muss, auch das Felsenkloster mit einbezogen wird. Ich habe selten so viel gelacht beim Lesen. Schade dass man den Originaltitel nicht übernommen hat. Un Hipster en la España vacía – Ein Hipster im leeren Spanien (wie man das Landesinnere bezeichnet) – das hätte besser gepasst. Unter gleichnamigen Titel ist das Buch verfilmt worden, unter Prime zu streamen. Auf jeden Fall eine Empfehlung für Freunde von böser Satire. «Es macht schon Sinn, dass es so ist, wie es ist. Du kannst nicht irgendwohin kommen und verlangen, dass alles bitte schön so zu laufen hat, wie du es dir vorstellst oder wie es sich ein Philosoph 1977 in Paris vorgestellt hat. Auch der Philosoph ist das Produkt eines bestimmten Umfelds, eines Geflechts von interagierenden Einflüssen … Oder einfacher formuliert: Wer woanders hinkommt, sollte erst einmal zuhören, zusehen und Respekt zeigen, ehe er alles ändern will, was seit Jahrhunderten leidlich funktioniert.» Daniel Gascón, geboren 1981 in Saragossa, ist ein spanischer Übersetzer, Schriftsteller sowie Drehbuchautor und Herausgeber. Für gewöhnlich wirkt er als Kolumnist in der größten Tageszeitung Spaniens El País mit und leitet die spanische Ausgabe der mexikanischen Kulturzeitschrift Letras libres.