
Buchdoktor
Die Informatik-Studentin Lucy Wittenberg ist Tochter einer Kinderärztin und Enkelin einer 1944 aus Polen Geflüchteten, die in Beirut als Chemikerin forschte. Als Mutter Daria ihrer Tochter ungefragt und symbolträchtig ihren Steinway-Flügel ins Berliner WG-Zimmer transportieren lässt, wird es für Lucy offenbar Zeit, sich mit Großmutter Lyudmilas Lebensweg und der Entfremdung Darias von ihrer Mutter zu befassen. Ihre spontane Reise nach Sopot an der polnischen Ostseeküste konfrontiert Lucy damit, dass sie hier oben als Polin gilt, weil sie eine polnische Großmutter hatte. Auf drei Zeitebenen (1944-55, 1976-91, 2014) und an mehreren Schauplätzen erzählt Paola Lopez von drei Frauengenerationen, deren Entfremdung u. a. auf Flucht, Exil und globaler Mobilität dieses Jahrhunderts beruht, ohne die die Beziehungsabbrüche zwischen Großmutter, Mutter und Tochter weniger extrem ausgefallen sein könnten. Mich hat in diesem Generationenroman berührt, wie die beruflich trainierte sprachliche Präzision der Naturwissenschaften Paula Lopez‘ Protagonistinnen offenbar nicht vor Kränkung und Entfremdung bewahren konnte. Durch das m. A. aufgebauschte Geheimnis um Lyudmila und komplexe Szenenwechsel wirkt der Roman auf mich (auf Kosten von Darias Vater und anderen Bezugspersonen) unausgewogen und zu stark auf Lyudmilas klischeehafte Rabenmutter-Rolle konzentriert. Auch Darias Entdeckung der unausgewogenen Mental Load in ihrer Ehe erst mit circa 50 Jahren konnte mich nicht überzeugen. Trotz der für mich wenig befriedigenden Unausgewogenheit dessen, was Lopez‘ Figuren von sich preisgeben, durch die Themen globale Mobilität, Flucht, Spurensuche, wissenschaftliche Karrieren von Frauen, kindliche Kränkung, Care-Arbeit und Wahlfamilien ein überraschend hochaktueller Roman.