
Buchdoktor
Hella Karl, Feuilleton-Leiterin für ein Printmedium, liest an ihrem freien Tag ausnahmsweise am frühen Morgen das Blatt, für das sie arbeitet, und wundert sich. Wenn ein Theaterintendant sich auf einer privaten Reise das Leben nimmt, hätte sie doch längst aus der Redaktion angerufen werden müssen und den fälligen Nachruf liefern. Kai Hochwerth ist nicht irgendein Intendant, sondern das Aushängeschild der Berliner Theater-Szene – den Hella kürzlich mit einer griffigen Schlagzeile bloßgestellt und damit zur Kündigung genötigt hatte. Hochwerths Tod wirft viele Fragen auf. Als soziale Aufsteigerin zählte Hella sich nicht zur Gruppe der MeToo-Aktivistinnen, sondern fühlte sich eher von Positionen angezogen, aus denen männliche Herrscher der Kulturszene ihre Macht durch sexuelle Übergriffe missbrauchten. Hella, die offiziell Überstunden abbummelt, kann nur inoffiziell recherchieren. Sie wird getrieben von der Frage, ob ihr Artikel Hochwerth tatsächlich in den Selbstmord getrieben hat oder ob es weitere Motive gegeben haben könnte. Doch noch ehe sie realisiert, dass sie beruflich gemeinsam mit ihm untergehen wird, entbrennt ein Shi*tstorm gegen sie in den Sozialen Medien, der sich zügig bis auf die Eingangsstufen ihrer ansehnlichen Villa in Potsdams Seelage erstreckt. Während Hella im Privatleben realisieren muss, dass sie mit ihrem Partner „T.“ nur noch gepflegt aneinander vorbei lebt, konfrontiert ihre heimliche Recherche sie mit der Symbiose von Feuilleton und Kulturszene. Sie muss sich fragen, warum sie sich mit ihrem Enthüllungsartikel ausgerechnet an Hochwerth und ausgerechnet am Fall einer schwangeren Schauspielerin abarbeitete. Hat sie bisher verdrängt, dass Kulturbereich wie Feuilleton-Journalismus in wirtschaftlichen Krisen auf der Liste von Sparmaßnahmen zuoberst stehen? Warum hatte gerade sie, die aus einfachen Verhältnissen stammt, sich das Kulturresort aufgehalst, fragten sich ihre Kollegen schon immer. Im Rahmen aktueller Nachrichten aus dem Haifischbecken Kulturszene nimmt Antje Rávik Strubel eine Vielzahl aktueller Themen auf, deren Verknüpfung ihre Leser:innen teils selbst leisten müssen. Die Skala reicht von Machtmissbrauch und Diskriminierung, über Klassismus und Geldadel, Niedergang der Debattenkultur, Verschleierung durch Sprache bis zur Abwesenheit weiblicher Netzwerke. Fazit Aus Rückblenden in Hellas Kindheit, vorwurfsvollen Auftritten des Verstorbenen in Hellas Visionen und ihrer inneren Souffleurin, die die erotische Geschichte ihrer Beziehung zu T. formuliert, ein kluges Buch und der Roman der Stunde.