
Marius
In seinem neuen Roman Der ewige Tanz entdeckt Steffen Schroeder die Zeit vor hundert Jahren als die eigentlich moderne. Er erzählt vom Leben der Tänzerin Anita Berber und zeigt, dass ihr Leben deutlich mehr war, als nur die skandalumwitterte „Nackttänzerin“ zu sein. Dabei zeigt Schroeder einmal mehr große Einfühlungs- und Beschreibungskunst. Ist das wirklich die Zeit vor ziemlich genau hundert Jahren oder doch eigentlich unsere Gegenwart, die Steffen Schroeder hier beschreibt? Theorien und Forschungen zum Dritten Geschlecht werden entwickelt, in Berliner Clubs trifft sich die äußerst lebendige queere Szene, die Kirche hingegen kämpft mit Nachwuchsproblemen und der spätere Ehemann von Anita Berber weiß, wie zukunftsweisende Mobilität aussieht: „So betrunken, wie du bist, wirst du deinen Wagen, wenn du überhaupt einen hast, wohl kaum angekurbelt bekommen.“ „Ich muss nicht kurbeln! Ich fahre einen Lloyd, ein Elektromobil, um genau zu sein. Da muss man zum Anlassen nur den Knopf drücken. Das lästige Schalten entfällt ebenfalls, man braucht kein explosives Benzin, alles läuft ohne Gestank oder Abgaswolken. Selbst betrunken fährt man mit Leichtigkeit und lautlos durch die Welt. Demnächst wird sich das Elektromobil durchsetzen, alles andere wäre absurd.“ Steffen Schroeder – Der letzte Tanz, S. 83 Nun gut, auch ein Säkulum später scheint der vollständige Siegeszug der Elektromobilität hierzulande noch absurd – aber in den immer wieder aufscheinenden Parallelen zwischen der Vergangenheit und Heute macht Steffen Schroeder bewusst, was für eine im wahrsten Wortsinn moderne und zukunftsweisende Zeit es war, damals in Berlin. Erinnerungen im Bethanien-Krankenhaus Für Anita Berber ist zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr viel mit Zukunft. Denn sie liegt sterbenskrank in einem Bett im Bethanien, dem von Diakonissinnen betriebenen Krankenhaus. Dort laboriert sie an einer Tuberkulose und erhält ab und an Besuch aus ihrer Vergangenheit. Vor allem taucht sie dort aber ein in die Erinnerungen an ein Leben, welches die ganze Fülle des irdischen Daseins ausschöpfte. Steffen Schroeder zeigt Anita Berber als einen Prototyp des gefallenen Stars, der den Weg zum Gipfel des Ruhms und den anschließenden Abstieg in die Bedeutungslosigkeit noch vor allen Hollywood-Starlets unserer Tage vollzog. Dabei greift er weit aus, geht zurück bis in die Kindheit der 1899 in Leipzig geborenen Frau. Die kindliche Verbundenheit mit ihrer Großmutter, die weltanschauliche Offenheit des vaterlosen Haushalts, die Karriere der Mutter als Variétésängerin in Berlin und die Distanz zu ihr, all das wirkt auf die junge Anita ein und prägt sie. Von Berlin nach Wien auf den Gipfel des Ruhms – und wieder hinunter Später wird sie in mittelmäßigen Filmen mit bezeichnenden Titeln wie Yoshiwara, die Liebesstadt der Japaner, Die vom Zirkus oder Ja, wenn der Strauß an Walzer spielt! mitspielen und eigene Tanzchoreografien entwickeln. Als syrische Göttin Astarte zeigt sie Ausdruckstänze und performt zur Musik von Debussy und Co. Besonders die fast hüllenlose Darstellung ist neu und befeuert die Aufmerksamkeit für ihr Schaffen auf den Bühnen Berlins. Die Freundschaft zum flamboyanten Tänzer und Dichter Willi Knoblich alias Sebastian Droste führt sie dann zu ganz neuen Lebensstationen. Nicht nur, dass der junge Mann aus gutem Hause zum neuen Tanzpartner von Anita wird. Engagements führen sie nach Wien, auf den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere. Sebastian bringt sie aber auch mit dem „Koko“ und Morphium in Kontakt, woraufhin sich eine fatale dolie a deux zwischen den beiden entwickelt, die sie vom Gipfel des Ruhms wieder hinabführen wird, wenn die Säle wieder kleiner und die Engagements spärlicher werden. „Wir werden das Leben tanzen, so, wie wir es empfinden. Selbstverständlich auch mit seinen Schattenseiten; wir werden das Verderben tanzen und den Tod.“ Heller musterte sie ohne jegliche Gemütsregung. „Und die Krankheit“, fügte sie rasch hinzu. „Die werden wir auch tanzen.“ Er nickte kaum spürbar. „Wir werden auch die Überwindung der Krankheit tanzen“, setzte sie nach. „Wir werden das Übersinnliche tanzen und die Spiritualität , aber auch das Versinken im Rausch. Wir werden den ganzen Irrsinn dieser aus den Fugen geratenen Welt tanzen.“ Dabei riss sie ihre stark geschminkten Augen auf, und Heller zuckte zusammen. „Wir werden tanzen, wie in Wien noch nie getanzt wurde“, flüsterte sie. Steffen Schroeder – Der ewige Tanz, S. 154 Anita Berbers Leben im Rausch Ein Hochstaplerleben im Rausch, wohnen in den besten Hotels der Stadt, der verglühende Ruhm, Liebe im Rausch, Eifersucht und vielfacher Schmerz, all das zeigt Steffen Schroeder in seinem Roman und stellt nach seinem Roman über die Physiker um Max Planck zur Zeit des Nationalsozialismus einmal mehr seine Fähigkeit zur Einfühlung in seine Figuren unter Beweis. Welche Umstände Anita Berbers Charakter formten, wie steil der Weg auf den Gipfel des Ruhms und noch steiler fast den Weg hinab bedeutete, das lässt sich aus Der ewige Tanz erfahren. Ihre Suche nach Anerkennung, die Hingezogenheit zu Männern und Frauen in der Offenheit Berlins oder dem starren Wiener Gesellschaftsleben, das alles zeigt Schroeder nachvollziehbar und anschaulich. Nicht zuletzt zeigt er auch den Tanz als Mittel der Befreiung und der Verarbeitung von Schmerz und erfahrenem Leid, womit der Roman zu einem vielschichtigen Porträt einer vielschichtigen Frau wird, die eben so viel mehr als nur die „Nackttänzerin“ war, als die sie der Boulevard betitelte. Wenn sie tanzte, schien ihr alles möglich. Dann schien die Musik Besitz von ihr zu ergreifen, und ihr Körper begann, sich von ganz alleine zu bewegen. Dann war sie nur dem Klang hingegeben und dem, was der Klang mit ihr machte. Dann schwanden die Grenzen zwischen ihrem Innenleben und der Außenwelt, sie wurden eins. Steffen Schroeder – Der ewige Tanz, S. 130 Fazit Voll mit Figuren der Zeitgeschichte wie Lovis Corinth, Otto Dix und Fritz Lang ist Der ewige Tanz das einfühlsame Porträt einer komplexen Künstlerpersönlichkeit. Steffen Schroeder lässt die Atmosphäre Berlins und Wiens in der Zwischenkriegszeit seinem Roman wieder aufleben und zeigt, dass Anita Berber eben viel mehr war als eine skandalumwitterte Künstlerin. Ein toll komponierter, sprachlich überzeugender und in puncto Figurenzeichnung sowie überzeugender Roman ist das, der Steffen Schroeder hier einmal mehr gelungen ist!