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dorli

Posted on 9.3.2025

In ihrem Roman „Der Gott des Waldes“ nimmt Liz Moore den Leser mit in die im US-Bundesstaat New York liegenden Adirondack Mountains. Hier befinden sich das Naturreservat der Bankiersfamilie Van Laar sowie das daran angrenzende Ferienlager Camp Emerson. Das Ferienlager gehört zwar zum Eigentum der Van Laars, wird aber schon viele Jahre von Vic Hewitt und seiner Tochter T.J. verwaltet. Die Handlung spielt im Jahr 1975. Es ist das Jahr, in dem die 13-jährige Barbara Van Laar zum ersten Mal die Sommermonate im Camp verbringen darf. Das freut nicht nur Barbara selbst, sondern ganz besonders ihre Mutter - die seit dem spurlosen Verschwinden ihres Sohnes Bear vor 14 Jahren psychisch labile Alice ist überaus froh, dass sie ihre zu Wutanfällen neigende Tochter für einige Wochen los ist. Noch bevor der Sommer zu Ende ist, geschieht das Undenkbare: eines Morgens ist Barbara verschwunden. Es gibt keinerlei Hinweise auf ihren Verbleib. Niemand will etwas gesehen oder gehört haben. Eine groß angelegte Suchaktion verläuft ohne Ergebnis. Liz Moore versteht es ausgesprochen gut, den Leser mit ihrer Erzählweise zu fesseln. Trotz der besorgniserregenden Ereignisse - schließlich ist eine Teenagerin aus reichem Hause in den undurchdringlichen Wäldern verschwunden und ein entflohener Straftäter soll sich in der Gegend aufhalten - lässt die Autorin die Handlung geradezu ruhig verlaufen. Keine actionreiche Höchstspannung. Keine atemlose Verfolgungsjagd. Kaum brenzlige Situationen während der Ermittlungen. Es ist gerade diese Ruhe, die mich in den Bann gezogen hat. Von der ersten Seite an schwebt über allem eine ständige, deutlich spürbare unterschwellige Spannung, die einen enormen Sog auf mich ausgeübt hat. „Der Gott des Waldes“ besticht vor allen Dingen durch ein abwechslungsreiches Geschehen und einen vielschichtigen Handlungsaufbau - mehrere, ständig wechselnde Zeitebenen sorgen dabei für eine genauso lebhafte wie mitreißende Szenerie. Die aktuelle Handlung wird von zahlreichen Rückblenden in die 1950er und 60er Jahre unterbrochen - so erfährt man häppchenweise, was in den einzelnen Zeitabschnitten passiert ist und kann die Unstimmigkeiten und Widersprüche rund um Bears Verschwinden und die Fehler, die bei den damaligen Ermittlungen gemacht wurden, hautnah miterleben. Liz Moore hat ein feines Gespür für die Figurengestaltung. Sie schickt eine ganze Reihe interessanter Charaktere ins Rennen, die im stetigen Wechsel zu Wort kommen, so dass man intensiv an den Gedanken, Emotionen und Geheimnissen jedes Einzelnen teilhaben kann und dadurch versteht, was sie bewegt und wie sie ticken. Man kann die positiven wie negativen Schwingungen zwischen den Akteuren deutlich spüren. Beziehungen und Abhängigkeiten sowie Andeutungen über Verwicklungen und tatsächliche Konflikte befeuern immer wieder meine Neugierde auf die Hintergründe zu den Vermisstenfällen. Die Autorin lässt mich glauben, dass so gut wie jeder für das Verschwinden von Barbara verantwortlich sein könnte. Geschickt lenkt sie meinen Blick von einem zum nächsten und ich verfolge aufmerksam, was jeder Einzelne zu berichten hat, immer auf der Suche nach dem kleinen Hinweis, der mich der Lösung des Falls und damit Barbaras und auch Bears Schicksal näher bringt. Der Roman hat jede Menge Gesellschaftskritik im Gepäck. Neben der damals wie heute stark auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich beleuchtet Liz Moore vor allen Dingen das Frauenbild in den 1950er bis 1970er Jahren - obwohl die Lebensläufe der Frauen in diesem Roman, ihre Altersstufen und ihr sozialer Stand ganz unterschiedlich sind, verbindet sie doch eine Sache: sie werden von den Männern in ihrem Umfeld als unterlegen angesehen. Sie werden unterdrückt, herumkommandiert, in ihrer beruflichen Entwicklung ausgebremst oder sogar zum Schweigen gebracht. Obwohl es sich durchaus um starke Frauenfiguren handelt, die den Herausforderungen des Lebens mutig begegnen, kämpfen sie meist vergeblich um einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft. Die sehr gelungenen Beschreibungen der imposanten Natur, die Schilderung der Gefahren, die die raue Wildnis birgt und auch die Einblicke in die Historie der Adirondacks unterstreichen die Handlung dieses Familiendramas ganz hervorragend und runden den Roman damit perfekt ab. „Der Gott des Waldes“ ist sowohl mitreißende Familiengeschichte wie auch fesselndes Gesellschaftsporträt - ein Roman, der mir mit seiner abwechslungsreichen Handlung nicht nur spannende Lesestunden beschert hat, sondern mich auch einen Blick auf die Abgründe menschlicher Moral hat werfen lassen.

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