
Buchdoktor
Die Zwillingsschwestern Enna und Jale Eggers wachsen bei ihrer Großmutter Ehmi an der Elbmündung auf der Höhe der Halbinsel Hahnöfersand auf. Von klein auf sind sie mit der Landschaft direkt am Flussufer vertraut und lernen von Ehmi den Umgang mit ihrem betagten Motorboot „Sturmhöhe“. Die Mädchen kennen – ohne Kontakt zu ihrem Vater – kein anderes Leben als allein bei Ehmi aufzuwachsen; ihre Mutter Alea absolviert in der Justizvollzugsanstalt Hahnhöfersand seit ihrem 19. Lebensjahr eine Haftstrafe. Mit ihrer Zwillingsschwester als einziger Angehöriger hat Ehmi sich überworfen. Da die Großmutter völlig absorbiert von ihrer Tätigkeit als Biologieprofessorin wirkt und nur das Nötigste spricht, haben die Zwillinge keine Chance, etwas aus ihrer Familiengeschichte zu erfahren und sich z. B. in Familienähnlichkeiten wiederzuerkennen. Ehmi fällt jedoch damit auf, dass sie Polizei und Justiz grundsätzlich misstraut und sich mit ihrem 80er-Jahre-Slang zum Thema eindeutig positioniert. In der unmitttelbaren Gegenwart soll Alea 40 Jahre nach Haftantritt aus der Haft entlassen werden. Zum angekündigten Termin ist sie jedoch längst entlassen worden und untergetaucht. Dass kurz zuvor ihre Tochter Jale verschwindet und zeitgleich ein Sportboot mitsamt dem Bootsführer kentert, wirft die spannende Frage nach möglichen Zusammenhängen auf. In Rückblenden treffen wir auf einen Jugendlichen, der 100 Jahre zuvor eine Strafe in Hahnhöfersand verbrachte, ein dramatisches Ereignis Mitte der 80er und erfahren, aufgrund welcher Tat Alea damals verurteilt wurde. Die Frage, weshalb die Strafe für deutsche Verhältnisse so hoch angesetzt wurde und wer der Vater der Zwillingsschwestern ist, wird in der komplexen, spannenden Handlung zunächst abgelöst vom Grübeln darüber, wie sich die Schwestern im Temperament unterscheiden und ob sie über das Schicksal ihrer Mutter evtl. einen unterschiedlichen Wissensstand haben könnten. Durch Figuren aus insgesamt vier Generationen, wechselnde Zeitebenen, Schauplätze und Erzählstimmen (Icherzählerin Enna und Focus auf diverse Personen) werden wir als Leser:innen lange über den Ablauf der Ereignisse im Unklaren gelassen. Oft hatte ich den Eindruck, dass Rebekka Frank sofort ein neues Geheimnis hervorzaubert, sowie eine offene Frage geklärt ist. Mich hat „Stromlinien“ durch die Atmosphäre am Fluss und im Marschland beeindruckt, wie auch durch die besondere Beziehung der Icherzählerin Enna zu dieser Landschaft. Für eine Figur, die mit dem Fluss aufgewachsen ist und ganz selbstverständlich mit dem Boot die Fahrrinne der Elbe quert, war mir Ennas Sprache etwas zu landrattenhaft, hier fehlt mir ein strengeres Lektorat. Mit einem Nachwort, das Fakten und Fiktion sortiert, sowie Quellen nennt, ein spannender Schmöker mit Marsch-Atmosphäre.