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Buchdoktor

Posted on 18.2.2025

Helene Brachts Icherzählerin Lena wuchs als einziges Kind eines für die 50er Jahre ungewöhnlich späten Elternpaars auf. Mit inzwischen 70 Jahren verbringt sie einen Club-Urlaub auf den Kanaren, um dort ungestört zu schreiben, da alte Frauen für ihre Umgebung praktisch unsichtbar sind. Rückblenden führen uns in ihre Grundschulzeit in den 60ern, in der sie durch eine vertraute Person sexuelle Gewalt erlitt, zeigen sie in einer längeren festen Beziehung mit Mitte 40, als feministische Aktivistin und in einem Gespräch mit ihrer 70-jährigen Mutter, als sie selbst Mitte 20 war. Die Autorin verdichtet in der Figur der Mutter Lenas die noch vom Nationalsozialismus geprägten Werte und das Frauenbild der Nachkriegszeit (unbedingter Gehorsam gegenüber Vätern, Lehrern, Priestern und Lehrherren, Gehorsam/eheliche Pflichten/Gewalt in der Ehe; Gehorsam, um geliebt zu werden; Häme von Frauen gegenüber „gefallenen Mädchen“, die sich ihre Situation selbst zuzuschreiben hätten, und Sprechverbote, mit denen sexuelle Gewalt durch nahestehende Personen verdrängt wurde). Mir hätten sich weitere Fragen gestellt zur kindlichen Entwicklung im Grundschulalter und zu Lenas Mutismus. Bei einer Icherzählerin muss ich mich jedoch zufriedengeben mit dem, was sie von sich preisgeben will. Lenas Rückblicke verknüpft Helene Bracht mit Fragen, zu denen bis heute Redebedarf besteht: Warum das Interesse an sexueller Gewalt nur kurzfristig aufflammte, als ab 2010 männliche Schüler von Elite-Internaten als Betroffene wahrgenommen wurden, warum Scham stets von betroffenen Frauen erwartet wird, nicht von den Tätern, die Rolle von Macht und Kontrolle im Erwachsenenleben jugendlicher Opfer, sowie die Auswirkung des erlittenen Verrats durch einen Erwachsenen auf das Bindungsverhalten der Betroffenen. Die Autorin thematisiert auch, wie Klischees hilfloser weiblicher Opfer in Filmen unser Frauenbild prägen und ob die MeToo-Bewegung diese Klischees verfestigt. Fazit Ein sprachlich elegantes, verstörendes Buch mit expliziten Gewaltszenen, die Helene Bracht einpasst in ein Sittenbild der 50er und 60er und mit zahlreichen Anmerkungen und Literaturhinweisen stützt (u. a. Meulenbelt (1978), Ruth Rehmann (1959), Melanie Büttner, Bronfen, Kavemann, Flaßpöhler).

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