Profilbild von monsieur

monsieur

Posted on 17.2.2025

Spaltung der Gesellschaft In Cristina Henríquez‘ Roman „Der große Riss“ wird der Bau eines Kanals, der den Atlantik mit dem Pazifik verbinden soll, zum zentralen Element der Handlung. Dabei verknüpft das Bauprojekt nicht nur zwei Ozeane, sondern auch das Schicksal mehrerer Protagonisten. Diese stammen aus unterschiedlichen Milieus und Kulturen, sind jedoch direkt oder indirekt von den Geschehnissen rund um den Kanalbau in Panama betroffen. Der Roman entfaltet sich aus verschiedenen Perspektiven und gibt einen vielschichtigen Einblick in das Leben dieser Zeit. Eine der eindrucksvollsten Figuren ist das junge Mädchen Ada, das neu nach Panama kommt, angelockt durch das Versprechen zahlreicher Arbeitsmöglichkeiten. Ihre Reise ist nicht nur geographisch, sondern auch sozial und emotional eine Herausforderung. Sie hat ihre Heimat verlassen, um Geld für eine notwendige Operation ihrer Schwester zu verdienen, und findet sich plötzlich in einer Welt wieder, in der unterschiedliche Gesellschaftsschichten aufeinanderprallen. Durch Adas Augen erkundet der Leser das Panama um 1900, eine Welt, die vielen heutigen Lesern wohl fremd erscheinen dürfte. Neben Ada gibt es zahlreiche weitere Protagonisten, deren Leben durch den Bau des Kanals auf die eine oder andere Weise beeinflusst wird. So begegnet Ada dem wohlhabenden Ehepaar Marian und John, das zur Oberschicht Panamas gehört. Marian ist schwer krank, und obwohl sie aus privilegierten Verhältnissen stammt, kann ihre gesellschaftliche Stellung ihr in dieser Situation wenig helfen. Ein weiterer zentraler Charakter ist der junge Fischer Omar, der sich von der Arbeit am Kanal ein unabhängiges Leben erhofft. Doch diese Entscheidung führt zu einem unausgesprochenen Konflikt mit seinem Vater, der ihn in der traditionellen Lebensweise der Fischer halten will. Die Distanz zwischen Vater und Sohn wird zu einer schmerzhaften Erfahrung für beide. Henríquez zeichnet mit großer Sensibilität das komplexe Wechselspiel zwischen individuellen Träumen und gesellschaftlichen Zwängen. Obwohl die einzelnen Charaktere für sich stehen, werden sie von Henríquez auch als Archetypen genutzt, um die damalige Gesellschaft zu analysieren. Durch ihre Geschichten werden tiefgehende Fragen zu Kultur, Politik und Gerechtigkeit aufgeworfen, die sich erstaunlich aktuell anfühlen. Insbesondere die weiblichen Figuren stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Sie sind es, die oft nur indirekt von den historischen Entwicklungen betroffen sind, aber dennoch eng mit ihnen verknüpft bleiben. Eine bemerkenswerte erzählerische Entscheidung Henríquez' ist es, aufzuzeigen, wie bestimmte Gruppen in der Geschichtsschreibung marginalisiert werden. Die einfachen Arbeiter, ohne deren Mühe der Bau des Kanals nicht möglich gewesen wäre, drohen in der offiziellen Historie zu verschwinden. Die Ehre gebührt allein den Entscheidungsträgern und Einflussnehmern, während diejenigen, die den eigentlichen physischen Kraftakt vollbringen, kaum Erwähnung finden. Auch die Menschen, die für den Bau des Kanals gezwungen werden, ihre Häuser zu verlassen, werden in der offiziellen Geschichte lediglich als Randerscheinung betrachtet. Dies wirft die zentrale Frage auf: Wem nutzt der Kanal letztlich? Ist es in erster Linie ein Projekt der Amerikaner, um ihre weltpolitische Stellung zu festigen, während die panamaische Bevölkerung auf der Strecke bleibt? Der Roman liefert viele solcher Fragen, ohne dabei eindeutige Antworten zu präsentieren. Henríquez verzichtet weitgehend auf direkte Wertungen und lässt vielmehr die Lebensgeschichten ihrer Figuren für sich sprechen. Dies verleiht dem Roman eine große Authentizität und lässt viel Raum für eigene Reflexionen. Dennoch ist klar, dass Henríquez mit "Der große Riss" mehr als nur einen historischen Roman schaffen wollte. Ihr Werk ist eine Allegorie auf gesellschaftliche Ungleichheiten, die bis in die Gegenwart reichen. Trotz dieser Tiefe verliert der Roman nie seinen Unterhaltungswert. Henríquez gelingt es, zwischen den verschiedenen Erzählebenen, zwischen individuellen Schicksalen, Geschichte und Politik, eine harmonische Balance zu finden. Sie erzählt von menschlichen Tragödien, gesellschaftlichen Spannungen und politischen Fragen, ohne ihre Figuren dabei zu eindimensional erscheinen zu lassen. Jede Figur wird mit viel Tiefe, Emotion und psychologischer Schärfe gezeichnet. Ihr Erzählstil ist bildreich und facettenreich, sodass sie eine selten behandelte historische Episode auf eindrucksvolle Weise zum Leben erweckt. Die Übersetzung von Maximilian Murmann unterstützt dies zusätzlich mit einer flüssigen und eleganten Sprache. Letztendlich ist "Der große Riss" ein überzeugender und tiefgehender Roman, der den Leser auf eine emotionale und geschichtliche Reise mitnimmt. Die Mischung aus individueller Tragik, gesellschaftlicher Analyse und historischer Präzision macht ihn zu einem Werk, das lange nachhallt. Henríquez ist damit ein beachtenswerter Schmöker gelungen, der sich sowohl für eine unterhaltsame Lektüre als auch für eine tiefere Auseinandersetzung mit den dargestellten Themen eignet.

zurück nach oben