Profilbild von nil

nil

Posted on 16.2.2025

Der Roman beginnt mit Klaras Tod, einem mysteriösen Absturz beim Wandern, der im Verlauf der Geschichte als unausgesprochener Katalysator wirkt. Dieser erzählerische Kunstgriff – die Umkehrung von Anfang und Ende – verleiht dem Werk eine dichte Atmosphäre, die von Beginn an Spannung aufbaut. Susanne Gregor meidet spektakuläre Wendungen zugunsten eines subtilen Spiels aus Andeutungen, Rückblenden und leisen Beobachtungen, die viel Raum für eigene Deutungen lassen. Muss man nicht mögen, ich fand es super gemacht. Die Stärke des Romans „Halbe Leben“ liegt in der psychologischen Ausgestaltung seiner Figuren. Klara und Paulína werden in all ihrer Widersprüchlichkeit und Ambivalenz gezeichnet. Klara, die in der Illusion lebt, alles unter Kontrolle zu haben, wirkt einerseits bewundernswert zielstrebig, andererseits distanziert und emotional unzugänglich. Paulína hingegen, die scheinbar selbstlos den Haushalt übernimmt, trägt eine Last, die in jeder Geste und jedem unausgesprochenen Gedanken spürbar wird. Es ist ein Gleichgewicht, das ständig zu kippen droht – zwischen Nähe und Abhängigkeit, Dankbarkeit und Ausbeutung. Ein Balanceakt. Gregor seziert mit beeindruckender Präzision die soziale Ungleichheit zwischen den Frauen und deren Lebensrealitäten. Dabei stellt sie unbequeme Fragen: Was bedeutet es, wenn Fürsorge zur Dienstleistung wird? Welche emotionalen und gesellschaftlichen Kosten birgt ein System, das familiäre Verantwortung auslagert? Besonders eindringlich ist Gregors Blick auf die unsichtbaren Opfer dieses Arrangements – Paulínas Kinder, die von ihrer Mutter nur aus der Ferne betreut werden, während sie sich um Fremde kümmert. Die Sprache des Romans ist unaufgeregt und prägnant, und gerade in ihrer Reduktion entfaltet sie eine enorme Intensität. Susanne Gregor gelingt es, ohne Pathos oder moralische Urteile die innere Zerrissenheit ihrer Figuren spürbar zu machen. Ihre Worte wirken wie feine Nadelstiche, die den Leser immer wieder zum Innehalten zwingen. Halbe Leben ist ein Roman, der weit über die individuelle Geschichte hinausgeht und den Finger auf eine der drängendsten Fragen unserer Zeit legt: die Last und Verteilung von Care-Arbeit. Dabei bleibt das Buch wohltuend unsentimental, fast dokumentarisch, ohne dabei an Emotionalität zu verlieren. Fazit: Mit ihrem Roman Halbe Leben legt Susanne Gregor ein vielschichtiges Werk vor, das sich der feinen Vermessung zwischenmenschlicher Abgründe und gesellschaftlicher Verwerfungen widmet. In einer klaren, nüchternen Prosa erzählt sie von Klara, einer erfolgreichen Architektin, die für das Leben ihrer Mutter Irene nach deren Schlaganfall eine Pflegerin engagiert: Paulína, eine Frau aus der Slowakei, deren eigene Familie unter ihrer Abwesenheit leidet.

zurück nach oben