
dorli
Bettina Storks beginnt ihren von wahren Begebenheiten inspirierten Roman „Die Schwestern von Krakau“ mit einem fesselnden Prolog, der im April 1943 im Montelupich-Gefängnis in Krakau spielt. Ich lerne die inhaftierte Widerstandskämpferin Gusta Dawidson Draenger kennen und erfahre, was gerade in ihr vorgeht. Ihre Gedanken reißen mich mit - ich möchte mehr wissen über den jüdischen Widerstand in Krakau. Möchte erfahren, was die jüdische Gemeinschaft und die polnische Bevölkerung während der Besetzung Krakaus durch die Nationalsozialisten durchmachen mussten. Schon nach diesen ersten Seiten weiß ich, dass mich eine Geschichte erwartet, die unter die Haut geht. Im Folgenden geht es nach Paris in das Jahr 2017. Hier begegne ich Édith Mercier. Die 52-jährige Architektin entdeckt im Nachlass ihres Vaters Simon Dokumente und Fotos, die ihre bisherige Welt ins Wanken bringen. Simon war adoptiert!? Édith will sich über ihre Wurzeln Klarheit verschaffen. Sie macht anhand der Notizen ihres Vaters Familienangehörige in Fellbach bei Stuttgart ausfindig und trifft sich daraufhin mit ihrer Großcousine Tatjana. Die beiden Frauen stellen schnell fest, dass es viele Ungereimtheiten in ihren Familienangelegenheiten gibt und beschließen, auf Spurensuche zu gehen… Die Handlung des historischen Parts beginnt im Frühjahr 1941. Lilo Wagner und ihre Schwester Helene wachsen als sogenannte Volksdeutsche in Krakau auf. Während die rebellische Helene bereits 1936 ihrem konservativen Elternhaus den Rücken gekehrt und in Paris ihr Glück gesucht hat, ist die pflichtbewusste Lilo in der Stadt an der Weichsel geblieben und macht eine Ausbildung zur Apothekerin. Die Adlerapotheke, in der Lilo beschäftigt ist, liegt in dem vor kurzem errichteten Krakauer Ghetto im Stadtteil Podgórze. Obwohl der Alltag in der Stadt durch die Machenschaften der Nationalsozialisten mehr und mehr in Schieflage gerät und es Lilos Eltern ein Dorn im Auge ist, dass ihre Tochter im Ghetto arbeitet, hat die 27-Jährige sich bewusst entschieden, dort ihre Ausbildung zu beenden. Weil sie ihre Arbeit liebt. Und ein bisschen auch, weil sie für ihren Vorgesetzten Tadeusz Pankiewicz schwärmt. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Lilo noch nicht, wie sehr ihre Entscheidung ihren gesamten Lebensweg prägen wird… Bettina Storks erzählt die Geschichte rund um die fiktive Krakauer Arztfamilie Wagner und ihre Nachkommen sehr anschaulich - die Charakterisierung der Figuren, die bildhaften Beschreibungen der Schauplätze (besonders Krakau hat mich fasziniert) und die intensiven Schilderungen des abwechslungsreichen Geschehens sowohl in dem historischen wie in dem zeitgenössischen Part machen diesen Roman zu einem genauso ergreifenden wie spannenden Leseerlebnis. In dieser mehrere Generationen umspannenden Familiengeschichte geht es um das Schweigen der Kriegsgeneration über die erlebten Schrecken. Es geht darum, wie sich Ereignisse und Entscheidungen aus früheren Zeiten auf das aktuelle Geschehen auswirken können und welchen Einfluss das Verdrängen von Wahrheiten auf die Lebenswege von Angehörigen und Nachkommen haben kann. Es war äußerst spannend zu beobachten, was Tatjana und Édith alles aufdecken. Gewichtige Tatsachen, sorgsam in den hintersten Winkeln der Gedächtnisse vergraben, kommen ans Licht und bewirken auch über ein dreiviertel Jahrhundert nach den eigentlichen Ereignissen bei den Protagonisten emotionale Achterbahnfahrten. Neben der Geschichte der Familie Wagner geht es in diesem Roman auch um den jüdischen Widerstand in Krakau. Hier hat Bettina Storks sich eng an das tatsächliche Geschehen in den 1940er Jahren gehalten und mit Gusta Dawidson Draenger und dem Apotheker Tadeusz Pankiewicz zwei überaus wichtige Mitglieder des Widerstands in den Mittelpunkt gestellt. Die Autorin schildert die Lebensumstände im Ghetto und die zutiefst bewegenden und manchmal erschütternden Ereignisse sehr mitreißend. Sie lässt die Widerstandsbewegung vor meinen Augen lebendig werden, so dass ich am Schicksal der Menschen teilhaben kann. Ich kann die ständige Bedrohung deutlich spüren und erlebe dabei mit, wie trotz aller Widrigkeiten absolute Einigkeit in der Gruppe um Gusta und Tadeusz herrschte und wie groß ihre Entschlossenheit war, für die Nachwelt etwas zu bewegen. Besonders begeistert hat mich dabei immer wieder das stimmige Bild, das Bettina Storks zeichnet. Romanhandlung und reale Ereignisse werden zu einer Einheit. Alles passt zusammen und wirkt durchweg authentisch und lebensnah. Auch das Zusammenspiel zwischen fiktiven Figuren und historischen Persönlichkeiten ist ausgeklügelt und funktioniert reibungslos. „Die Schwestern von Krakau“ hat mir sehr gut gefallen - eine tiefgründige Familiengeschichte, die voller tragischer Momente ist und mich auch nach dem Lesen noch lange beschäftigt hat.