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Faber hat einen perfekten viktorianischen Roman geschrieben. Bis ins Detail sind soziale Wirklichkeit, geistige Strömungen und jede Kleinigkeit der Ausstattung recherchiert. Ebenso sorgfältig sind die inneren Strukturen und Tatsachen miteinander verwoben. Werden zu Beginn des Romans morsche Treppenstufen beschrieben, kann man als Leser sicher sein, daß spätestens zum Ende der über 800 Seiten jemand genau dort verunglücken wird. Eine weitere Fähigkeit des Autors ist es, alle Personen detailgenau, ohne Klischees und lebendig zu porträtieren, von den Protagonisten bis zu den Nebenfiguren und Hausangestellten. Auch die Prostituierten enstammen nicht einer oft strapazierten Sozialromantik, sondern sind lebensechte Figuren mit durchaus eigenwilligen Lebenseinsichten und nicht zu unterschätzendem Artikulationsvermögen. Fabers eigentliche Sympathie gilt den Frauen des Romans, ihrem Kampf ums Überleben, um Anerkennung und Zuneigung oder - wie im Falle der Ehefrau Agnes - darum, dem goldenen Käfig zu entkommen. Fast alle Frauen sind Außenseiter in ihrer Gesellschaft - ebenso der eher lebensunfähige Henry Rackham - aber es ist William, der sich unberechtigter Weise im größten Maße dafür hält. Den Leser erwarten auf den vielen hundert Seiten keine Intrigen, keine große "Action", sondern eher private, und in diesem Sinne eher kleine Entwicklungen und Katastrophen, die jedoch im menschlichen, persönlichen und familiären Bereich immense und nicht immer negative Auswirkungen nach sich ziehen. Dies vermag sicher nicht alle Leser zu fesseln, aber die, bei denen es gelingt, werden auf eine interessante, spannende und äußerst anregende Lektüre gestoßen sein. Ich rechne das Buch zu den Höhepunkten meiner langjährigen Leseerfahrungen.