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Buchdoktor
Laura Wiesböck stellt plausibel dar, wie der inflationäre Gebrauch psychiatrischer Begriffe (Trauma, Triggern, sowie toxisch als Wort des Jahres 2018) durch Laien dazu führt, dass Probleme tatsächlich psychisch Erkrankter marginalisiert würden. Wenn Lebensphasen und schicksalhafte Ereignisse (Trauer, berufliche Belastung) als Depression etikettiert, Eigenschaften wie Schüchternheit zur Sozialphobie erklärt würden, sei es an der Zeit zu fragen, wer von dieser Verschiebung profitiert. Als Auslöser der Begriffsverschiebung sieht Wiesböck u. a. fehlende religiöse Einbindung, Individualisierungs-Prozesse, krankmachende Auswirkungen des Neokapitalismus, besonders aber den Einfluss von Content Creatoren, Influencern und selbsternannten Experten in den Sozialen Medien. Ohnehin psychisch belastete Personen sieht sie als besonders verletzlich für Einflüsse der Social Media, da sie sich eher von sozialen Aktivitäten zurückziehen und online Verbindungen pflegen würden. Wiesböck betont, dass Ansprüche an die weibliche Rolle und weibliche Körper durch Soziale Medien gerade auf die Psyche junger Frauen nachweislich schädliche Einflüsse hätte, die von einer populären weltweiten Plattform ebenso nachweislich verheimlicht worden seien. Die Autorin leitet u. a. die „Sad-Girl-Culture“ aus den USA (die sich nur an weiße Jugendliche wendet, Schwarzen wird keine empfindsame Psyche zugestanden) und das Bedürfnis, das Social-Media-Profil mit psychiatrischen Laien-Diagnosen zu labeln, aus der Emo-Kultur der Nullerjahre und dem Einfluss von Kinofilmen her. Sie zeigt auf, dass z. B. eine an sich wünschenswerte Entstigmatisierung von Neurodiversität einherging mit ihrer Kommerzialisierung, indem Influencer wie Fachleute aus dem Handel mit Merchandising, Apps und kostenpflichtigen Dienstleistungen ein einträgliches Geschäftsmodell entwickelten. Die Frage, wer verdient an einem Trend, wer erleidet die Nachteile und welche systemischen Missstände werden auf diesem Weg verdeckt, zieht sich wie ein roter Faden durch Wiesbecks Buch. Die Autorin kommt zwangsläufig auf das Problem der Ambiguitäts-Intoleranz (Aushalten von Mehrdeutigkeit) zu sprechen, auf den erlernten defizitorientierten Blick und die abnehmende Bereitschaft, menschliches Verhalten innerhalb eines breiten Spektrums zu akzeptieren, anstatt durch Begriffsinflation Nuancen zu verwischen. „Digitale Diagnosen“ schlägt zunächst einen Bogen zur Rolle patriarchal geprägter Männlichkeit, wenn die Verteidigung von Straftätern vor Gericht die Opferkarte zieht und eine Tat mit psychischer Erkrankung, dem Täter als Gewaltopfer oder der Mitschuld des meist weiblichen Opfers rechtfertigt. Hochinteressant finde ich Wiesbecks Analyse der Pathologisierung Einzelner, die von systemischen, rassistischen und frauenfeindlichen Strukturen ablenkt, wenn School-Shootings weißer, männlicher Täter vorschnell als Folge psychischer Erkrankung etikettiert werden. Ein weiterer Bogen führt zum Themenkreis des Wohlstandsphänomens Mental-Health, Healing, Selfcare, Me-Time, die laut Wiesböck (verstärkt durch die Corona-Lockdowns) Frauen erneut den Bereich Küche und Kinder zuteile und ihnen Cocoonig und Homedecorating schmackhaft mache. Da der Trend zum Healthism aus den USA stammt, stellt Wiesböck ihn kritisch Defiziten des amerikanischen Gesundheitssytems gegenüber, in dem Durchschnittsverdiener sich Therapien kaum leisten können und auch die geforderte Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit ein Luxusgut bleiben wird. Generell fordert die Autorin, amerikanische Kontexte und Denkmodelle nicht ungeprüft zu übernehmen. Laura Wiesböcks Beispiele und zitierte Experten stammen vorrangig aus den USA und Österreich, in den geschilderten Zusammenhängen konnte ich mich jedoch unkompliziert wiederfinden. Das Buch ist kein Ratgeber, stellt jedoch die passenden Fragen, um z. B. mit Jugendlichen darüber zu diskutieren, wer von einem Trend in den Sozialen Medien profitiert, wohin das Geld fließt und was all das mit Kapitalismus- und Patriarchats-Kritik zu tun hat. Ein kritisches, wichtiges Buch, an dem ich für meine Verhältnisse lange und mit Gewinn gelesen habe.