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mabuerele

Posted on 15.1.2025

„...Sie wusste um die Kraft der verschwiegenen Erinnerungen des familiären Gedächtnisses, welches Unheil unbewusste Botschaften, verschüttete Glaubenssätze und Verbote ausrichten konnten. Am nachhaltigsten wirkten die unausgesprochenen...“ Tatjana ist Psychologin. Noch ahnt sie nicht, dass sie sich wenige Zeit später mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen muss. Die Autorin hat eine bewegende Familiengeschichte geschrieben. Gleichzeitig arbeitet sie ein Stück Geschichte der Stadt Krakau auf. Das Buch zeugt von umfangreicher und exakter Recherche. Der Schriftstil ist gut ausgearbeitet. Er bringt die Geschehnisse auf den Punkt und lässt Raum für tiefgehende Gespräche und Emotionen. Die Geschichte wird in zwei Handlungssträngen erzählt. Der eine spielt 2017, der andere beginnt 1942. Als Edith aus dem Musikzimmer ihres Vaters Simon Mercier in Paris nach dessen Tod seine Geige holt, findet sie eine Wand voller Zeitungsausschnitte und Bilder. War Simon ein angenommenes Kind? Bei den Ausschnitten ist eine Adresse und eine Telefonnummer in Deutschland. Edith ruft an und trifft auf ihre Großcousine Tatjana. Deren Großmutter Lilo, die nicht mehr lebt, war die Schwester von Helene, die vermutlich Simons Mutter ist. Doch in Lilos Familie hieß es, dass Helene und ihr Sohn 1942 gestorben wären. Tatjana macht sich auf nach Krakau. Dort lebte die Familie während des Krieges. Nur Helene war 1936 nach Frankreich ausgewandert. Warum? Das Geschehen der Vergangenheit spielt in Krakau. Dort macht Lilo in einer Apotheke im Ghetto ihre Ausbildung. Der Vater ist Arzt. Die Eltern sind Deutsche. Die mutter ist ziemlich konservativ. „...Eine Frau sollte überhaupt nicht arbeiten müssen und schon gar nicht in einer solchen Umgebung, wenn Sie meine Meinung dazu hören möchten, lieber Walter...“ Walter ist ein junger Arzt, der bei der Familie ein und aus geht und eine völlig andere Meinung hat. Die Apotheke gehörte dem Polen Tadeusz Pankiewicz. Er ist einer der historischen Persönlichkeiten, die im Buch eine Rolle spielen. Seine Apotheke war nicht nur für viele Juden ein Segen, sondern auch ein Anlaufpunkt für den jüdischen Widerstand. Als sich Edith und Tatjana auf die Spuren der Vergangenheit begeben, ahnen sie, dass sie in ein Wespennest stechen. „...Sonderbarerweise hatten die Wagners eine lupenreine Weste, so klang das aus Lilos Mund. Sie waren völlig unpolitisch. Dabei halte ich das für ausgeschlossen, nicht, nachdem die Nazis dort das Regiment übernahmen...“ Die Vorgänge in Polen ab 1942 werden sehr genau wiedergegeben. So erfahre ich eine Menge über die Veränderung in der Stadt und die Widerstandsbewegungen. Ja, es gab zwei. Zwischen jüdischen und polnischen Widerstand scheint es nur marginal, wenn überhaupt, Berührungspunkte gegeben zu haben. Lilo geht 1944 nach Stuttgart. Ihr Eltern sind zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben. Es war Tadeusz, der ihr das ans Herz gelegt hat. Er ahnte sicher, was sie als Volksdeutsche sonst zu erwarten hatte. Eine seiner Antworten auf die Frage, warum er sich trotz aller Gefahren um die jüdischen Einwohner kümmert, hat mich tief bewegt: „...Ich tue das, was sich gehört. Das ist alles. Ich zeige Haltung...“ Es gäbe noch eine Menge zu dem Buch zu sagen. Das aber würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Gerade in dem Strang der Gegenwart werden in Gesprächen von Tatjana mit dem polnischen Historiker Adam Fragen aufgeworfen, die jeden treffen können. Was wissen wir über das Leben unsere Eltern und Großeltern in den Jahren des Nationalsozialismus? Wie haben ihre Erlebnisse und das Verdrängen und Verschweigen die nachfolgenden Generationen geprägt? Das Buch verfügt über zwei Personenverzeichnisse. Am Anfang stehen die fiktiven Personen, am Ende die historisch belegten. Zu letzteren gibt es weitergehende Informationen. Auch die wichtigsten Ereignisse zwischen 1939 und 1046 werden übersichtlich dargestellt.Ein kurzes Nachwort schließt die Geschichte ab. Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es bekommt von mir eine unbedingte Leseempfehlung.

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