liesmal
Für mich ist es das zweite Buch von Silah Jamal, das ich nach „Das perfekte Grau“ kennenlerne. Und wieder bin ich fasziniert davon, wie sein poetischer Schreibstil selbst neben den Schilderungen schrecklicher Situationen im Lebensalltag bestehen kann. "Meine Eltern schauten beide zueinander auf. Bis sie gemeinsam in den Abgrund hinabblicken mussten." Jonas hatte das große Glück, in einer liebevollen Familie aufzuwachsen – bis zu dem Zeitpunkt, als das Schicksal erbarmungslos dieses Glück beendete. Seine Mutter ist früh gestorben und der Vater musste eine Gefängnisstrafe verbüßen für eine Verzweiflungstat. Er hatte keinen anderen Ausweg gesehen. Mit 14 Jahren kommt Jonas, der Erzähler der Geschichte, ins „Heim der Wölfin“, „ein Kinderheim, verborgen im Autobahnwald“, wie es in der Buchbeschreibung heißt. Hier wird er zu Jimmy und bald findet sich eine Gruppe von sechs „Seelen, die wie er vom Verlust geprägt sind“. Allerdings hatte keiner der anderen eine glückliche Kindheit. Hier an diesem Ort jedoch tritt jeder für jeden ein und ist füreinander da. Über das Zusammenleben und den Tagesablauf im Heim erzählt der Autor kaum etwas. Der Fokus liegt auf der Gruppe, deren persönliche Geschichten nach und nach erzählt werden. Diese Geschichten machen betroffen und traurig. Ich nehme mir viel Zeit zum Nachdenken. Kaum kann ich es begreifen und es dürfte auch nicht sein, dass nur ein Kind ohne Liebe aufwachsen muss. Doch in vielen Familien gibt es Streit statt Zusammenhalt, Hass statt Liebe, Schläge statt Umarmungen. An Sätzen über fehlende Selbstliebe, bedingungslose Liebe und die vielen verletzten Kinderseelen, die „in erwachsenen Körpern Verstecken spielten“, bleibe ich lange hängen und lese sie immer wieder. Mit 18 Jahren verlassen die Jugendlichen nach und nach das Heim und verlieren sich dabei aus den Augen. Doch Jimmy macht sich auf die Suche… Salih Jamal schreibt großartig, mal sehr einfühlsam, dann wieder voll brutal. Und immer wieder sind es die Sätze voller Poesie, die so in die Geschichte eingewoben sind, dass ich nur staunen kann und ins Träumen gerate. Sehr gern empfehle ich vor allem denen, die sich Zeit bei der Lektüre nehmen wollen, dieses Buch, das von Schuld und Vergebung, von Verlust und der Hoffnung auf ein besseres Leben erzählt.